Mercy, Band 4: Befreit
löse ich den Verriegelungsknopf in der geschwungenen Armlehne an meiner Tür.
„Ich mach das schon“, sage ich in fließendem Italienisch zu dem Fahrer und lasse mein Fenster herunter.
Die dunkel getönte Scheibe auf der Fahrerseite fährt wieder hoch und unser Fahrer dreht sein breites, faltiges Gesicht wortlos nach vorne. Aber ich merke an der Stille, die von ihm ausgeht, dass er weiter zuhört.
Der Polizist tritt überrascht einen Schritt zurück und legt eine Hand auf die Waffe an seiner Hüfte, bevor er sich wieder fängt. Er mustert mich kühl, dann Ryan, und ich halte seinem Blick stand. Ryan auch, wie ich anerkennend feststelle. Ich öffne den Rucksack und nehme den Empfehlungsbrief heraus.
„Ihr Italienisch ist erstaunlich gut für eine reiche Ausländerin“, sagt der Polizist sarkastisch. „Dann haben Sie doch verstanden, was ich Ihnen gesagt habe: Hier werden zurzeit nur Anwohner durchgelassen.“
„Bitte lesen Sie den Brief“, flehe ich ihn an und gebe ihn ihm. Der Polizist nimmt ihn widerstrebend. „Ein Schreiben, das von Signora Agnelli-Re persönlich unterzeichnet ist, im Auftrag des Ateliers Re. Wir werden in der Villa Nicolin von Bianca St. Alban erwartet.“ Ich sehe, wie die Augen des Polizisten bei meinem schamlosen Namedropping flackern, und zeige auf die beiden Kleider, die auf dem Sitz vor mir liegen. „Wir sind sowieso schon spät dran.“
Der Polizist wirkt einen Augenblick unsicher, aber dann wird seine Miene wieder streng. „Es tut mir leid, Signorina, aber wir haben unsere Befehle. Manche Straßen sind unpassierbar. Die Toten – es sind noch nicht alle geborgen.“
„Bitte“, sage ich leise. „Lesen Sie den Brief. Rufen Sie die Nummer an, die hier steht. Es war der letzte Wunsch von Giovanni Re, dass Signorina St. Alban diese Kleider bekommt. Sie wissen doch sicher, wer Giovanni Re war? Ein berühmter Sohn der Stadt Mailand, ein guter Mensch. Ich habe nicht viel Zeit. Und es ist ungeheuer wichtig, dass ich diese Kleider heute noch abliefere.“
Der Polizist lässt sich Zeit bei der Lektüre des Briefs. Schließlich schaut er hoch, macht auf dem Absatz kehrt und geht zu den Uniformierten zurück, die sich in lockeren Abständen an der Schranke verteilt haben. Ich sehe, wie er mit einigen von ihnen redet. Alle überfliegen ratlos den Brief.
Hinter uns fängt ein ungeduldiger Autofahrer an zu hupen, und die anderen fallen sofort in das Hupkonzert ein. Durch mein offenes Fenster sehe ich, wie mehrere Polizisten die Absperrung verlassen und sich durch den Verkehrsstau nach vorne schlängeln, um die Unruhestifter zur Ordnung zu rufen.
„Wir halten alle auf“, murmelt Ryan stirnrunzelnd. „Was ist denn da vorne los?“
Der junge Polizist ist nirgends zu sehen.
„Vielleicht ruft er jetzt die Nummer an“, sage ich zuversichtlich, obwohl ich nicht wirklich daran glaube. „Gia hat doch alles geregelt, die müssen uns durchlassen.“
Wir warten schweigend, nervös, ekeln uns vor dem penetranten Rauch- und Aschegeruch, der von draußen hereindringt und allmählich den ganzen Wagen verpestet.
Dann kommt am Ende der Straßensperre Bewegung auf. Mehrere Autos und Vans rangieren herum, um einen Motorradpolizisten durchzulassen. Der Polizist donnert durch die Lücke, fährt eine enge Schleife um unsere Limousine und stoppt mit aufheulendem Motor direkt vor meinem offenen Fenster. Er schiebt mit einer schwarz behandschuhten Hand das Visier seines Helms hoch, und ich erkenne die kalten blauen Augen des Polizisten wieder, dem ich den Empfehlungsbrief gegeben habe.
„Ich werde Sie jetzt zur Villa Nicolin eskortieren“, sagt er knapp. „Und ich kann Ihnen nur raten, weder nach rechts noch nach links zu schauen, sonst werden Sie es bereuen.“
Ich fasse unwillkürlich nach Ryans Hand und halte sie ganz fest.
Der Polizist klappt sein Visier wieder herunter und donnert davon, und wenige Sekunden später lenkt unser Fahrer die Limousine an den grimmig blickenden Uniformierten und den zahlreichen blau-weißen Polizeiwagen vorbei.
Die Straße führt in sanften Windungen bergauf, und wir betrachten fasziniert die Häuser mit den roten Ziegeldächern, die sich in die Hügel ringsum schmiegen und von der Spätnachmittagssonne in ein rosiges Licht getaucht werden. Als der See zum ersten Mal in Sicht kommt, stockt uns der Atem: Hohe Kiefern und malerische Häuser säumen das Ufer und dahinter ragen die schneebedeckten Gipfel der fernen Berge auf. Wunderschön.
„Warum in aller
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