Mercy, Band 4: Befreit
wagt.
„Du … du liebst mich?“, wispert er. „Selbst nach allem …“
„Ich gebe mich dir aus freien Stücken und in Liebe hin“, säusle ich und schaue ihn mit Nuriels riesigen dunklen Augen an. „Aber nur wenn du mir versprichst, dass du mich nie wieder an diesen Felsen kettest. Bewahre mich vor Remiel, diesem Tier, dann werde ich für immer die Deine sein.“
„Was verlangst du da?“, sagt Ananel, als ich mich ihm nähere, bis seine Lippen fast die meinen berühren können.
Ananel ist einer von Lucs grausamsten Dämonen – einer der ursprünglichen hundert, die mit ihm gefallen sind – und er ist mir in mehr als einer Hinsicht überlegen. Aber ich habe ihn verwirrt, das sehe ich in seinem Blick.
„Nimm mich“, murmle ich ganz dicht vor seinem Mund. Meine Stimme bebt vor geheucheltem Verlangen, und meine Augen sind starr auf ihn gerichtet, so wie man eine angreifende Giftschlange fixiert. „Halt mich fest“, wispere ich. „Küsse mich.“
Ananel greift nach mir, fast widerstrebend, und umfasst mein Gesicht mit einer Hand, dann wühlt er seine Finger in meine Haare und zieht mich an sich. Unsere Lippen treffen aufeinander, sein Mund öffnet sich über meinem und sein Kuss ist wie ein lähmendes, berauschendes Gift. Hitze und Verderbtheit schlagen mir entgegen, unersättliche Gier – die dunkelsten Triebe in lichteste Schönheit gehüllt.
Ich kann die Augen nicht offen halten, meine Glieder sind bleischwer, und als sein Kuss noch tiefer, zerstörerischer wird, spüre ich, dass ich mich verändere. Das falsche Gesicht, die falsche Gestalt, die ich angenommen habe, fallen von mir ab wie eine tote Haut. Ich kann nichts dagegen tun, kann keinen Gedanken, kein Gefühl mehr festhalten, spüre nur noch seinen Mund auf meinem und die Hitze und Macht in ihm. Mein idiotischer Plan geht buchstäblich zum Teufel, als mein Widerstand unter diesem gnadenlosen Kuss dahinschmilzt. Durch seine Augen sehe ich alles, was er im Lauf der Jahrhunderte getan, gedacht, gefühlt und verursacht hat. Und ich erkenne schaudernd das Monster in ihm.
Plötzlich schleudert Ananel mich von sich, hält mich aber immer noch an den Haaren fest. Benommen öffne ich die Augen, und er starrt mich voll Entsetzen an, als ihm langsam dämmert, dass er getäuscht wurde.
„Wer …?“, keucht er.
Ehe er weiterreden und meinen Namen aussprechen kann, meinen wahren Namen, der als Waffe gegen mich gerichtet werden kann, erscheint ein kurzes Flammenschwert in meiner linken Hand, eine Waffe mit einer tödlichen, geriffelten Klinge. Eine hellblaue Flamme züngelt daran entlang. Meine Todesangst, mein Abscheu gegen ihn geben mir die Kraft, ihm die Klinge ohne Zögern in die Kehle zu rammen und ihn so an den Felsen hinter ihm zu nageln.
„H…“, röchelt er und seine grauen Augen quellen ungläubig hervor, während die dunkle Energie, aus der er besteht, rasch aus ihm herausströmt wie Blut. Ich bin über und über damit besudelt, und es brennt wie Säure.
Sein anklagender Blick wird trübe, als Nuriel an meiner Seite erscheint. Jetzt erst spüre ich, dass ich zittere. Ich habe gerade ein Leben genommen, ein verderbtes zwar, aber trotzdem. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich getötet.
Entsetzen erfüllt uns beide, als Ananel sich vor unseren Augen auflöst. Was ist nur aus mir geworden? Eine Eloha, die zugleich eine Lügnerin ist, eine Verführerin, eine Killerin.
Als Nuriel und ich die kabbelige Oberfläche des Sees durchstoßen, taucht ein kleines Boot vor uns auf, das kaum drei Meter von uns entfernt mit laufendem Motor in den Wellen hüpft. Schnurgerade rast es auf uns zu, während ich Nuriel aus der Strömung herausreiße, die uns unten hält. Bianca St. Alban steht am Ruder. Ich erkenne ihren dunklen Regenmantel und den dunklen Zopf, der ihr über die Schulter hängt. Ryan klammert sich hinter ihr am Bug fest.
Wir warten, schweben dicht über der Wasserlinie, ohne mit den Fußspitzen die Oberfläche zu berühren. Ehrfurcht und Schrecken zeichnen sich in Biancas Gesicht ab, als das Boot näher kommt. Und ungläubiges Wiedererkennen. Bianca hat mich – mein wahres Ich – bei unserer Begegnung im Atelier Re gesehen. Ich hatte mich irgendwie aus Irinas Körper befreit, nur für einen flüchtigen Moment, und dabei erhaschte Bianca einen Blick auf meine Engelsgestalt.
Ich packe Nuriel noch fester, flüstere ihr ins Ohr, damit sie trotz ihrer Benommenheit auch wirklich begreift, was ich von ihr verlange. Als das
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