Mercy, Band 4: Befreit
Boot sich neben uns schiebt, werfen wir die Flügel ab und nehmen Menschengröße an, um Bianca und Ryan nicht unnötig zu erschrecken, aber wir tragen noch die ärmellosen Gewänder.
Ryan beugt sich heraus, um Nuriel an Bord zu hieven, und ich sehe, dass ihm beim Anblick ihrer schrecklichen Wunden fast schlecht wird. Kein Sterblicher könnte überleben, was Nuriel erlitten hat.
Bianca breitet hastig eine Decke über eine Bank und Nuriel legt sich schweigend darauf, rollt sich zusammen und schließt die Augen. Das Licht, das von ihr ausgeht, verblasst, bis ihre Haut fast glanzlos ist, fast menschlich, und nur ich kann den Schimmer sehen, der aus ihren Poren sickert.
In Sekundenschnelle, sodass niemand außer mir den Vorgang wahrnimmt, hat sie sich verwandelt und trägt jetzt wieder das Outfit, in dem ich sie zum ersten Mal vor dem Atelier Re gesehen habe: bauschige hellblaue Daunenjacke, Jeans und Schneeboots. Ihre Strickmütze hat sie sich tief in die Stirn gezogen. Aber ich weiß, dass der Schein trügt, dass der Schmerz weiter in ihr tobt. Ihre Wunden sind noch da, liegen dicht unter der makellosen Oberfläche verborgen, und obwohl sie die Augen geschlossen hält, ist ihre Qual fast greifbar.
Ryan hält mir seine Hand hin, aber ich schüttle abwehrend den Kopf, und er wird sofort misstrauisch. „Bitte nicht“, stößt er wild hervor. „Tu mir das nicht an!“
„Aber ich muss noch was erledigen“, sage ich flehend. „Ich erklär’s dir später. Bring sie ans Ufer, ja? Und pass auf sie auf. Tust du das für mich?“
Ryan nickt und murmelt: „Was fragst du überhaupt? Du weißt doch, dass ich alles für dich mache.“
Ehe er weitersprechen kann und ich den Mut verliere, tauche ich wieder ins Wasser hinunter und werfe unterwegs Gestalt und Farbe ab.
Beinahe komme ich zu spät.
Remiel ist schon bei dem Felsen, wo Ananels dunkle Energie im Wasser versickert. Innerhalb von Sekunden ist nur noch der flammende Dolch übrig, mit dem ich ihn getötet habe und dessen Klinge bis fast zum Heft in der Felsensäule steckt.
Remiel zieht die Waffe heraus, um ihre Beschaffenheit und ihren Schöpfer auszumachen. Als der Dolch in seiner Hand kurz auflodert und erlischt, flucht er laut. Und plötzlich weiß ich wieder, was ich im Lauf der Jahrhunderte vergessen hatte: dass eine solche Waffe nur von ihrem Schöpfer geführt werden kann.
Ich glaube nicht, dass Remiel mich spürt. Aber er ist listig und verschlagen und vollständig regeneriert. Als ich mich nähere, dreht er sich unversehens um, und seine großen Hände tasten im Wasser, wühlen sich in mich hinein, in den Schlamm, aus dem ich bestehe, versuchen mich festzuhalten, obwohl er mich nicht sehen kann. Ich winde und drehe mich, so unsichtbar wie die Strömung, und da brüllt er plötzlich: „Appare!“ Zeig dich!
Es nützt nichts, dass ich mein wahres Ich wiedererlangt habe, meine ursprüngliche Macht. Seine Stimme ist wie eine schreckliche Anrufung, der ich mich nicht entziehen kann. Ohne zu wissen, wie mir geschieht, stehe ich plötzlich vor ihm.
Eine Sekunde lang durchbohren wir uns mit unseren Flammenblicken. Remiels Pupillen haben die Farbe geschmolzenen Silbers, es sind die Augen eines Tiers, eines Ghuls.
Dann packt er mich im Nacken und ich kann mich nicht aus seinem Griff winden. Seine Finger sind mit mir verschlungen, als ob er in mich hineinströmte, sich brutal einen Weg in mein Inneres bahnte, so wie er es mit Nuriel gemacht hat, und ich bin nur noch ein einziger Schmerz.
Mit der anderen Hand hält er meine schmalen Handgelenke zwischen uns fest, sodass ich keine Waffe darin erscheinen lassen kann. Und selbst wenn ich es könnte, würde er sie nur gegen mich kehren.
Langsam dämmert das Wiedererkennen in seinen Augen. Er bewegt den Mund, will meinen Namen aussprechen, so wie zuvor Ananel. Der Schmerz in mir verdreifacht sich, explodiert. Wenn er meinen Namen sagt, bin ich verloren, dann muss ich ihm gefügig sein. Und die Strafe, die Ananel Nuriel verheißen hat, wird mich treffen.
Remiel hält mich immer noch an den Handgelenken fest. Er ist jetzt zu nahe, als dass ich eine Klinge gegen ihn führen könnte. Viel zu nahe.
Dann fängt die Zeit an zu rasen und steht zugleich still, und ich sehe, wie Remiels Mund die erste Silbe meines Namens formt: „Han…“
In meinem Kopf tobt die Hölle los, als wollte ich den Namen, der ein so wesentlicher Teil von mir ist wie das Licht, mit jeder Faser zurückstoßen. Meine Seele, mein innerstes
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