Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
Vom Netzwerk:
geliebt“, murmelt sie und ihre Augen weiten sich vor Schmerz. „Immer schon.“
    „Ja, ich weiß“, seufze ich und sehe Raphael vor mir, wie er einst war: helläugig, dunkelhaarig, mit olivfarbener Haut und lächelndem Mund.
    Plötzlich steigt eine Erinnerung in mir auf: Raphaels Hände ruhen auf meiner, er warnt mich vor Lucs Eitelkeit, vor seinem schrecklichen Stolz, und er prophezeit mir, dass Luc mir am Ende wehtun würde. Anscheinend habe ich nicht auf ihn gehört, denn eine zweite Erinnerung verdrängt rasch die erste: Raphael, wie er mich aus großer Ferne anschaut. Er steht unmittelbar hinter Michael, als Luc jene letzten, schicksalhaften Worte gesprochen hat, während er meine linke Hand eisern mit seiner rechten umklammerte. So nehmt denn, als Akt des Glaubens – oder sagen wir, als Zeichen meines guten Willens –, was mir am teuersten ist. Ich erlaube es.
    Und plötzlich ist es, als wäre ich wieder dort, als würde ich den Augenblick noch einmal erleben, und ich sehe die Panik in Raphaels Augen, der Lucs Absicht vor allen anderen errät. Ich sehe, dass er unfähig war, rechtzeitig zu handeln und zu verhindern, was geschehen würde. Raphael und Michael wollten mich irgendwie auffangen, aber ich war bereits fort, verloren, im selben Moment als Luc mich mit aller Kraft hinunterschleuderte.
    Wie blind ich damals war, wie dumm. Wie wenig ich die Liebe, den schützenden Kokon verdiente, den die Acht all die Jahre danach um mich gewoben haben.
    Nuriel krümmt sich vor Schmerz und die Erinnerungen erlöschen. „Ich dachte immer“, keucht sie, „dass meine Welt wieder in Ordnung wäre, wenn wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, wenn du mich als die erkennst, die ich bin. Dass alles wieder heil und unversehrt wäre.“
    Mit einem irren Lachen wendet sie den Kopf ab, und als sie mich wieder ansieht, erschrecke ich, denn sie weint. Tränen aus Licht strömen über ihre Wangen, und sie schreit: „Ich bin nicht so stark wie du! Ich glaube nicht, dass ich das hier überlebe. Jahrelang habe ich mit angesehen, wie du in dieser Menschenwelt leidest, so wie ein Tier leidet. Und nur dein angeborener Hochmut, dein unbezähmbarer Wille haben dich hier am Leben erhalten. Und du bist im Wesentlichen dieselbe geblieben, leuchtend und ganz, trotz aller Qualen, die du erlitten hast. Du bist stark und schnell wie eh und je.“
    Noch ehe sie zu Ende gesprochen hat, verschwimmen ihre Umrisse und sie verwandelt sich, liegt jetzt ohne Mütze da, mit bloßen Gliedern in ihrem zerfetzten, ärmellosen Gewand. Ich schlage die Hände vor den Mund, als ich ihre Wunden sehe, die jetzt deutlich zutage treten. Es sind Spuren von Dämonenwaffen, schreckliche Verbrennungen, klaffende Wunden, als wäre sie von wilden Tieren zerfetzt worden. Licht sickert aus ihr hervor, sie ist mehr tot als lebendig und ich bringe vor Entsetzen kein Wort heraus.
    Verzweifelt bäumt Nuriel sich auf, packt mich am Oberarm, und ihr Abscheu vor sich selbst ist so übermächtig, dass ich alles dafür geben würde, ihn auf mich nehmen zu können.
    „Ich will sterben“, fleht sie. „Sterben. Oder Gnade empfangen so wie du, zumindest frei von Erinnerung sein, von allem Verstehen so wie du. Das wäre eine Gnade, auch wenn es dir nicht so erscheint. Lehre mich zu vergessen, denn ich kann mich nicht mehr selbst heilen. Ich habe diese Fähigkeit verloren. In mir ist weder Vergebung noch Liebe. Ich bin leer.“ Ihre schimmernde, blutende Gestalt wird von heftigem Schluchzen geschüttelt und sie sinkt auf die Couch zurück.
    Ich umfasse ihr Gesicht mit beiden Händen und spüre, wie ihre wilde Verzweiflung allmählich nachlässt. „Ich war ein seltsames Hybridwesen in all diesen Jahren“, wispere ich ihr zu. „Verderbt, geschändet, geschwächt. Luc hat es selbst gesagt. So willst du doch nicht sein.“
    „Und trotzdem hast du Ananel getötet“, murmelt sie beinahe vorwurfsvoll. „Ich habe es selbst gesehen.“
    „Und Remiel auch“, füge ich hinzu.
    Nuriel sieht zu mir hoch.
    „Er ist tot“, sage ich. „Er kann dir nichts mehr anhaben.“ Ihr Blick verschwimmt.
    „Außer in meinen Albträumen“, wispert sie. „Denn dort bleibt er immer lebendig.“
    „Du meinst, dass er dich in deinen Träumen verfolgt?“, murmle ich. „Ja, ich weiß, wovon du redest. Aber es sind doch nur Träume, sonst nichts. Nur ferne Echos.“
    Ich gebe mich zuversichtlicher, als ich bin, denn meine Träume quälen mich, seit ich denken kann.
    Ich streiche

Weitere Kostenlose Bücher