Mercy, Band 4: Befreit
Wesen zerreißt bei dem Klang meines eigenen Namens.
Urplötzlich halte ich ein Gewehr in der Hand, das wie gerufen kommt: schlank, schwer, vermutlich halb automatisch. Eine perfekte Nachbildung des Fabrikats, das ich bei dem Wachmann auf dem Dach der Galleria gesehen habe, eine Menschenwaffe, die weder Tempo noch Kraft noch Finesse verlangt. Nur Nähe und Idiotenglück.
Voll Grauen und Abscheu bohre ich den Lauf unter Remiels Kinn und drücke den Abzug. Ein einziger Schuss, und die Kugel ist so tödlich wie jede Klinge, die ich je geschaffen habe. Er wird weggefegt und eine Welle von Hitze und dunkler Materie reißt mich auf den Grund des Sees.
Als ich die Augen wieder öffne, ist nichts mehr von ihm übrig. Die ganze Hitze, das ganze Gift, die negative Energie – alles ist bereits ins Universum zurückgeströmt, im Nirgendwo verstreut.
Ich schaue auf die Waffe in meiner Hand und sehe gerade noch die blaue Flamme, die rasch an der Oberfläche entlangspielt und dann verschwindet. Nur ein kurzes Auflodern, der einzige Hinweis, dass es keine irdische Waffe ist. Dann lasse ich voll Abscheu das Gewehr aus meinen zitternden Fingern fallen, und es löst sich im Wasser auf.
Als ich in der Nähe des Stegs aus dem schäumenden Wasser auftauche, fällt mein Blick zuerst auf Ryan, der dort auf mich wartet. Er sitzt mit dem Rücken an einen Pfosten gelehnt, hat die Mütze tief in die Stirn gezogen und starrt reglos wie eine Statue auf den See hinaus. Er verkörpert für mich alles, was gut ist in dieser Welt, und es schnürt mir die Kehle zu, als ich ihn so sehe.
Lautlos hieve ich mich aus dem Wasser.
„Verdammt noch mal, Mercy!“, stößt er hervor, als er mich sieht. „Was zum Teufel hast du gemacht?“ Er muss sich tief zu mir herunterbeugen, um den Wind zu übertönen. „Das hat ja eine Ewigkeit gedauert. Es ist schon fast Mitternacht. Ich war außer mir vor …“
Wortlos schlüpfe ich in seine Arme, liege eine Weile einfach nur da, und meine Haut, die völlig trocken ist, leuchtet blendend weiß in der pechschwarzen Nacht. Über uns türmt sich eine dunkle Wolke auf, brodelnd wie Rauch, wie etwas Lebendiges. Ich kann nicht in Worte fassen, was mir beinahe angetan wurde – was ich getan habe. Ohne zu zögern.
Ich bin eine Killerin. Nur Glück und Zufall haben mich davor bewahrt, zu einer solchen Kreatur wie Ananel und Remiel zu werden.
„Was ist denn passiert?“, fragt Ryan wieder.
Ich bringe immer noch kein Wort hervor, aus Angst, dass er mich hassen wird, wenn er erfährt, was ich getan habe. Jetzt beugt er sich herunter und hebt mich in seine Arme.
„Lass mich“, sagt er heftig, als ich mich sträube. „Glaubst du, es war leicht für mich, dich einfach gehen zu lassen? Warum kannst du mir nicht wenigstens meinen Stolz lassen, verdammt noch mal? Es macht mir Angst, wenn du so bist, so starr, mit diesem fremden Ausdruck im Gesicht. Ich will nicht immer ausgeschlossen sein. Rede mit mir! Komm zu mir zurück, wie du es versprochen hast.“
Ich starre auf meine Hände, an denen praktisch noch das Blut der beiden Dämonen klebt.
Ryan trägt mich über den Steg und eine Steintreppe hinauf und die ganze Zeit redet er auf mich ein. „Weißt du, was das Schlimmste für mich ist? Dass du mich nicht wirklich brauchst. Ich bin vollkommen überflüssig in diesem ganzen Szenario.“
Die letzten Worte brüllt er fast, und ich weiß, dass er zu Recht wütend ist. Er wartet treu auf mich, steht unerschütterlich zu seiner Liebe zu mir und was mache ich? Behandle ihn wie Luft.
„Du bist nicht überflüssig“, krächze ich so leise, dass er mich anfaucht: „Was?“
„Nicht überflüssig“, wiederhole ich mühsam, denn meine Kehle ist wie zugeschnürt. „Ich brauche dich. Ohne dich würde ich durchdrehen. Ohne dich hätte ich keinen Kompass.“
Er lockert seinen Griff ein bisschen, aber seine Stimme ist immer noch voll Wut. „Willkommen zurück.“
Er trägt mich über die Straße zu dem riesigen schmiedeeisernen Tor an der unteren Grenze des St.-Alban-Anwesens. Er hält mich immer noch im Arm, als er auf die Klingel an der Gegensprechanlage drückt, die genauso aussieht wie die am Haupteingang der Villa. Aber diesmal werden wir nicht gefragt, was wir wünschen. Die riesigen Torflügel schwingen einfach auf und schließen sich lautlos hinter uns.
Es sind nur ein paar Meter bis zum Gästehaus, das jetzt nicht mehr hell erleuchtet ist. Ryan stellt mich an der Eingangstür behutsam auf die Füße. Aber
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