Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
Vom Netzwerk:
Nuriel die dunklen Locken aus der Stirn. „Ich kann diese Wunden nicht heilen“, sage ich leise. „Nur die Zeit kann das. Leid und Glück liegen in dieser Welt dicht beieinander, man erlebt viel Schreckliches, aber auch viel Schönes. Du musst dich einfach an das Schöne halten und alles andere … ich weiß nicht … von dir abfallen lassen. Das habe ich gelernt. Du musst einfach nur sein . Du brauchst Schönheit und Stille und Zeit. Das ist die einzige Weisheit, die ich, die nie weise war, dir anbieten kann.“
    Nuriel schließt die Augen und allmählich lösen sich unter meinen tröstenden Worten und Händen die körperlichen Spuren ihres Martyriums auf, bis sie äußerlich wieder so strahlend und vollkommen ist wie eh und je. Aber darunter ist etwas zerbrochen und sie wird nie wieder die Alte sein. Ich kenne dieses Gefühl nur zu gut: dass das Leben eine Heimsuchung ist, die einen hart macht wie einen Diamanten.
    „Ich hab dich so vermisst“, stößt Nuriel rau hervor. „Du hättest uns nie verlassen dürfen, hättest mich nie verlassen dürfen. Nicht so. Das hat alles verändert.“
    Als sie mich wieder anschaut, sind ihre Augen klarer und ruhiger. „Selbst wenn du so geschwächt bist, wie du sagst, hast du etwas vollbracht, was nur wenige Elohim zustande bringen. Du hast zwei aus Lucs innerstem Kreis niedergestreckt. Anders als die Elohim und Malachim können die Ränge der niedrigen daemonium immer wieder neu gefüllt werden“, erklärt sie, und ihr Mund verzerrt sich angewidert, „aber Remiel und Ananel waren unersetzlich für Luc. Ich bete, dass er noch nichts davon weiß, denn du hast ihn getroffen – und er wird zurückschlagen.“ Langsam setzt sie sich auf, lächelt schwach. „Du bist jetzt eine Macht, mit der man rechnen muss, ob es dir passt oder nicht.“ Sie hält einen Augenblick inne, dann packt sie meine Hände und beschwört mich: „Befreie Selaphiel. Er wurde als Erster gefangen. Ich habe den Ort in Remiels und Ananels Geist gesehen. Sie konnten ihn nicht vor mir geheim halten, wenn sie …“ Ihre Stimme versagt und sie umklammert meine Hand noch fester. „Es war der Ort, den du aufgesucht hast, um zu … sterben. Dort halten sie ihn fest. In einem Reich des Todes. Unter der Erde. Erinnerst du dich?“
    Entsetzt weiche ich zurück, als der Ort vor meinem geistigen Auge aufblitzt. Er liegt tief unter den Ruinen einer alten Menschenstadt verborgen, in der die Lebenden ein trostloses Dasein fristeten und sich gegenseitig mit Aufständen, Seuchen und Hungersnöten vergifteten. Unter der Erde herrschte eine gesegnete Stille, bis die Kammern und Gänge sich mit Wasser und Fäulnis füllten, weil sie vor menschlichen Leichenteilen überquollen – Schädel und Oberschenkelknochen, Fingerknöchel und Rückenwirbel, Fett, Haar, Sehnen. Der Geruch des Todes lastete schwer auf mir und auf dem Ort. Der Aasgestank war so bestialisch, dass er durch die Fundamente nach oben gedrungen sein muss und noch weit darüber hinaus. Genau das hat mich ursprünglich dorthin gezogen. Der Todesgestank. Für eine Albtraumkreatur, wie ich es war – ein verkohltes, zerfetztes Etwas, das nur aus Angst und Asche bestand –, war es der passende Ort, um allem ein Ende zu setzen.
    Aber die Acht haben mich dort gefunden. Und zum Leben gezwungen.
    „Ja, ich sehe es“, wispere ich. „Wenn die Hölle ein Tor hat, muss es dort sein. Aber ich kann mich nicht an den Namen der Stadt erinnern. Er ist wie ausgelöscht in meinem Gedächtnis, und ich weiß nicht, war ich es selbst oder waren es andere?“
    „Paris“, erwidert Nuriel rau. „Die Acht haben dich in Paris gefunden. Auf dem Cimetière des Innocents . Remiel und Ananel waren bei Luc, als er die Grabkammer aufstöberte, in der du noch wenige Stunden zuvor gelegen hattest. Aber von dir war nichts mehr zu sehen und in seiner Wut riss Luc alle Gräber auf, um nach Spuren von dir zu suchen. Dabei wurde das Grundwasser verseucht und somit die gesamte Stadt. Das ist ja seine Spezialität – uns von unten, aus dem Dunkel zu überfallen.“
    Ich will mich von Nuriel losreißen, aber ihr Griff ist fest, sie lässt nicht locker.
    „Selaphiel wird an einem Ort festgehalten, der von Gebeinen begrenzt ist“, fährt sie fort. „Und ich bin mir sicher, dass er noch mehr gelitten hat als ich. Ich würde ihn ja selber retten, aber ich bin nur noch eine leere Hülle, zu nichts zu gebrauchen. Befreie unseren Bruder. Sieh es als einen Liebesdienst an, den du mir

Weitere Kostenlose Bücher