Mercy, Band 4: Befreit
Wort „war“, aber ich bin so am Boden zerstört – von jenen Erinnerungen, die einen nahezu körperlichen Schmerz in mir auslösen –, dass ich nur „Oui“ fauche.
Daraufhin tritt der Fahrer aufs Gas.
„Ich frag lieber nicht, ob alles in Ordnung ist“, sagt Ryan leise. „Aber erklär mir wenigstens, was los ist. Wie soll ich dir helfen, wenn du nicht mit mir redest?“
Unsere Hände liegen ineinander verschränkt auf seinem Schoß, und ich habe Angst, dass ich ihm die Finger breche, so fest halte ich sie umklammert. Aber wie immer steckt Ryan alles, was ich ihm zumute, klaglos weg.
„Du bist mein Kompass, okay?“, wispere ich. „Du bist da, um meinen Weg in dieser dunklen Welt zu erleuchten. Der Ort hier ist nur der Schatten einer fernen Vergangenheit, aber meine Erinnerungen daran sind so grauenhaft, so entsetzlich, dass mir heute noch der Atem stockt …“
Ich will meinen Griff lockern, aber Ryan lässt mich nicht los. Also halte ich weiter stumm seine Hand, während die ersten Ausläufer der Stadt an uns vorüberziehen. Dann wird der Verkehr dichter und wir erreichen die Innenstadt von Paris. Ich entdecke Gebäude und Gassen, die mir vertraut erscheinen, und die Angst schnürt mir die Kehle zu. Vor vielen Jahrhunderten bin ich durch die Ruinen gekrochen, die längst verschüttet, unter der Last der modernen Zivilisation begraben sind. Aber die Spuren der alten Stadt, die ich einst kannte, sind noch da, im Untergrund. Ich spüre ihre Anziehungskraft.
Als wir an einem riesigen Bahnhof vorbeikommen, der damals noch längst nicht gebaut war, und einen breiten Boulevard entlangrasen, der lauter mir unbekannte Straßen kreuzt, weiß ich, wo wir sind. Ich blicke auf und sehe ein Schild: „Boulevard de Sebastopol“. Der Name der Straße ist nicht mehr derselbe, aber wir sind am Ziel. Der Ort, nach dem ich gesucht habe, liegt hier direkt unter unseren Füßen. Ich sage dem Fahrer, dass er anhalten solle. Er bringt den Wagen zum Stehen und wartet mit laufendem Motor.
„Wo sind wir?“, fragt Ryan und schaut aus dem Fenster.
„Les Halles“, erwidert der Fahrer mit rauer Stimme und wirft uns einen kurzen Blick zu. „Im ersten Arrondissement.“
Ich schaue mich um, aber außer großen, vornehmen Wohnhäusern und kahlen, zurechtgestutzten Bäumen kann ich nichts entdecken. Alles sieht sehr ordentlich, sehr gepflegt und sauber aus.
„Les Halles, ja“, murmle ich, „aber wo ist der große Markt, der direkt an einen riesigen Friedhof grenzte, den größten von Paris, der von Toten nur so überquoll? Ein grausiger Ort, der nach verseuchter Erde und verwestem Fleisch stank und auf dem sich die Gebeine türmten …“
Der Fahrer dreht sich um und wirft mir einen seltsamen Blick zu. „Meinen Sie die Markthallen? Die gibt es schon längst nicht mehr. Seit … ähm … den Sechzigerjahren, wenn ich mich nicht irre. Also lange bevor ich auf die Welt gekommen bin.“
„Der Markt interessiert mich nicht“, herrsche ich ihn an. „Wo ist der Ort, an dem die Gebeine aufgehäuft sind?“
Nuriel hatte mir den Ort genau beschrieben. Es konnte doch unmöglich zwei davon in Paris geben?
Statt mir zu antworten, gibt der Fahrer Gas, biegt mal in diese, mal in jene Seitenstraße ein und hält dann schließlich an einem kleinen Platz mit einem großen Steinbrunnen in der Mitte. Ich spähe durch die Scheibe zu dem Brunnen hinüber und bin einen Augenblick zu erschüttert, um etwas zu sagen. Ich kenne diesen Brunnen, kenne die Figuren darauf. Er stand einst an einer anderen Stelle in der Rue St. Denis, die ebenfalls kaum wiederzuerkennen ist.
Ohne zu fragen, beugt Ryan sich zu mir herüber und schließt mich in die Arme.
Der Fahrer lässt das Fenster auf meiner Seite herunter. „Das ist alles, was vom Cimetière des Innocents noch übrig ist“, sagt er. „Dieser Platz mit dem Brunnen. Die Gebeine wurden alle vor langer Zeit umgebettet – vor über zweihundert Jahren, glaube ich. Den Friedhof, den Sie suchen, gibt es nicht mehr.“
„Aber wo wurden die Gebeine hingebracht?“, flüstere ich, starre auf den sanft plätschernden Springbrunnen und zum düsteren Winterhimmel auf, der sich wie eine rauchgraue Glaskuppel über den hübschen Platz wölbt.
„Offiziell? Zur Place Denfert-Rochereau“, sagt der Fahrer, „im vierzehnten Arrondissement. Ich bringe Sie hin.“
Wenige Minuten später fahren wir über die mächtige Seine, die Paris in Nord und Süd teilt, in rechtes und linkes Ufer. Ryan
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