Mercy, Band 4: Befreit
betrachtet staunend die Menschenmengen auf den von Bäumen gesäumten Boulevards, die riesigen alten Gebäudekomplexe zu beiden Seiten der Straße und die gotische Fassade von Notre Dame. Ich erkenne die Kathedrale sofort, ebenso wie die filigrane Turmspitze der Sainte Chapelle, die die Stadt überragt. Das Stadtbild hat sich im Lauf der Jahrhunderte stark verändert, und selbst vor der Île de la Cité, der Insel inmitten der Seine, hat der Fortschritt nicht haltgemacht. Aber mir bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn wir haben die Île bereits hinter uns gelassen und fahren weiter nach Südwesten. Alle paar Meter entdecke ich etwas, was ein Bild in mir wachruft oder ein starkes Gefühl auslöst, Erinnerungen, die ich längst erloschen glaubte. Aber jetzt springen sie mich an jeder Ecke an wie Gespenster.
Alles hier erscheint mir so unwirklich, wird von Bildern aus der Vergangenheit überlagert, so als würden wir zwei verschiedene Städte gleichzeitig durchqueren. Das einzig Reale, Greifbare in dieser Welt sind Ryan und ich, der Fahrer und dieser Wagen. Ich lehne mich an Ryans tröstlich festen Körper, um gegen diesen traumähnlichen Schwebezustand anzukämpfen, gegen das Gefühl, dass alles hier eine Halluzination ist. Ich konzentriere mich auf Ryans Herzschlag, den Rest blende ich aus – die Stimmen, die Geräusche, das Chaos jener schrecklichen Tage.
Ich war davon ausgegangen, dass Selaphiel im Cimetière des Innocents festgehalten wird, und diese törichte Annahme hat uns wertvolle Zeit gekostet. Falls wir je einen Vorsprung vor Luc und seinen Dämonen hatten, sei er auch noch so gering, haben wir ihn jetzt verspielt.
„Dumm“, knurre ich laut und würde mir am liebsten auf die Zunge beißen, aber es ist zu spät.
„Wenn Sie alte Knochen sehen wollen“, ruft der Fahrer über die Schulter, „davon gibt es mehr als genug in den Pariser Katakomben, und alle sind sehr eindrucksvoll. Die Touristen sind ganz versessen darauf.“
Als wir endlich die Place Denfert-Rochereau erreichen, schiebt sich unser Wagen zwischen zwei riesige Sightseeing-Busse, deren Seitenspiegel aussehen wie nach unten gebogene Insektenfühler.
„Oh, das sieht ja wie ein Museum aus“, stellt Ryan überrascht fest.
Vor einem unscheinbaren Steingebäude wartet eine lange Touristenschlange. Die Leute sind dick vermummt und tragen bunte Mützen, Schals, Mäntel, Handschuhe und Stiefel. Manche haben Thermosflaschen oder Lunchpakete dabei. Die meisten sind mit Rucksäcken und Kameras bewaffnet, einige auch mit Regenschirmen. Selbst Kinder sind darunter.
Ryan hat denselben Gedanken wie ich. „Also ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, dass die … ähm … Selaphiel in einer Touristenattraktion versteckt haben …“
„… wo die Leute in dicken Fleecejacken herumstehen und Eintritt dafür zahlen, dass sie die Überreste von Toten anschauen dürfen?“, unterbreche ich ihn mit schneidender Stimme. „Nein, vergiss es. Das hier kann es nicht sein. Aber wenn das nicht der Ort ist, den Nuriel gesehen hat, wo soll er sonst sein? Sie können die Kälte nicht ertragen, seit sie vom ursprünglichen Licht abgefallen sind, hat sie mir gesagt. Ein Ort, der von Gebeinen begrenzt ist. Aber eine solche Touristenattraktion kann sie nicht gemeint haben.“
„Das hier ist nur der Besuchereingang“, wirft der Fahrer betont beiläufig ein. „Er führt in einen etwa eineinhalb Kilometer langen Tunnelabschnitt, den man für Besucher freigegeben hat. Die Leute werden durchgescheucht wie eine Schafherde und am Ende tauchen sie in der Rue Dareau wieder auf und blinzeln verwirrt ins Licht. Aber die Katakomben reichen viel weiter. Unter unseren Füßen liegt ein ganzes Netz von unterirdischen Gängen und alten Steinbrüchen – den carrières . Das ganze linke Ufer ist davon durchzogen. Die Steine, aus denen Paris erbaut wurde, kommen aus dem Untergrund, und jetzt ist ein Großteil der Stadt auf Luft gebaut.“ Er lacht zynisch und fügt dann hinzu: „Ja, es stimmt, die Gebeine wurden zuerst hierhergebracht. Aber dann wurden Räumungstrupps runtergeschickt, um die Knochen zu entsorgen, Nacht für Nacht, jahrelang. In den Steinbrüchen liegen noch viel mehr Knochen verstreut – nicht nur vom Cimetière des Innocents, sondern von allen anderen stillgelegten Pariser Friedhöfen. Die Millionen Skelette dieser Stadt würden doch nie in die Gruselmeile passen, die extra für die Touristen angelegt wurde. Es gibt viele, viele Eingänge
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