Mercy, Band 4: Befreit
führt. Es ist kurz nach zwölf Uhr mittags, und der Verkehr auf der Brücke ist ohrenbetäubend und unglaublich schnell. Niemand würde auf die Idee kommen, dass ein solcher Ort das Tor zur Hölle sein soll, aber Luc war schon immer sehr erfinderisch, das muss man ihm lassen.
Bevor wir über die Brückenmauer klettern, ziehen Henri und Ryan ihre Handys hervor. Ryan tippt seine Alibi-Message für Henri ein und drückt auf „Senden“.
Henri tippt in sein Telefon: In Ordnung, Mr Daley. Sollten Sie mit Ihrer Freundin bis 15.30 Uhr nicht zurück sein, fahre ich weg und informiere meine Firma. Aber Sie können mich natürlich jederzeit anrufen, wenn Sie mich brauchen – ich bin für Sie da. Viel Spaß bei ihrem Erkundungsgang in dieser schönen, geschichtsträchtigen Gegend.“
Er zeigt Ryan die Nachricht und Ryan nickt. Henri drückt auf „Senden“. Damit hat er sein Alibi und Ryan und ich können unbesorgt im Untergrund von Paris verschwinden.
Ryan will mir über die Mauer helfen, hilfsbereit, wie er nun mal ist. Ich kann meinen verletzten Stolz nicht verbergen und er wirft lachend den Kopf zurück. Dann zieht er sich an der Mauer hoch und klettert hinüber.
Henri tritt vor, um mir hinüberzuhelfen, aber ich sage schnell und leise, sodass Ryan mich nicht hören kann: „Wenn wir nicht zurückkommen, Henri, dann rufen Sie bitte die Nummer an, die Ryan Ihnen gegeben hat. Versuchen Sie es immer wieder, egal wo Sie sind. Er muss unbedingt zu dem Flugzeug zurück, das in Le Bourget auf ihn wartet. Ich bin nicht wichtig – und ich kann gut auf mich selber aufpassen, wirklich. Aber Ryan ist mir das Liebste auf der Welt, und er hat noch sein ganzes Leben vor sich, in das er problemlos zurückkehren kann. Geben Sie nicht auf, versuchen Sie es immer wieder, bis Ihre Schicht zu Ende ist. Ryan muss nach Hause zurück, bitte. Würden Sie das für mich tun?“
Henri nickt verwundert. „Ja, sicher ruf ich an. Ich hab schließlich nichts zu verlieren. Im Gegenteil, es zeigt nur, wie gut ich mich um unsere Kundschaft kümmere.“
„Hal-lo?“, ruft Ryan ungeduldig von der anderen Seite der Mauer herüber.
Ich spüre Henris Augen auf mir, als ich mich an der Mauer hochziehe, leichtfüßig hinüberspringe und lautlos im hohen Gras auf der anderen Seite lande. Ryan wirft mir einen fragenden Blick zu, aber ehe ich etwas sagen kann, taucht Henris Gesicht über der Mauer auf. Rot vor Anstrengung lässt er sich zu uns herunterfallen und landet ungeschickt auf dem Boden.
„Einen Augenblick“, keucht er verlegen und rappelt sich aus dem Gestrüpp auf, in dem er gelandet ist. Mit angewiderter Miene bürstet er sich ab und gibt uns mit einem Handzeichen zu verstehen, dass wir ihm den Hang hinunter zu den Bahngleisen folgen sollen.
An den Gleisen sieht Ryan sich mit gerunzelter Stirn nach beiden Seiten um.
Henri lacht. „Die Schienen sind außer Betrieb. Hier fahren nur noch Geisterzüge.“
Wir gehen eine halbe Ewigkeit an den Gleisen entlang. Und je weiter wir kommen, desto mehr steigt die Spannung und meine Angst wächst wie wilder Wein, der einer fernen Sonne entgegenrankt.
Endlich taucht ein riesiger Eisenbahntunnel vor uns auf und wir treten aus dem fahlen Tageslicht in eine Dunkelheit, die für Ryan und Henri undurchdringlich sein muss. Ungeschickt schlittern sie hinter mir her, bis einer von ihnen in den anderen hineinknallt, laut „Autsch!“ brüllt und beide stehen bleiben.
„Merde!“ , flucht Henri und kramt sein Handy hervor.
Er lässt das Display aufleuchten und hält es vor sich wie eine Taschenlampe, aber es nützt fast gar nichts. Die Luft vor uns ist unerklärlich neblig und schmeckt süß-säuerlich, wie explodierter Zuckerstaub.
„Rauchbomben“, sagt Henri. „Die Höhlengänger vernebeln ihre Spuren mit Rauchbomben, weil es illegal ist, hier runterzugehen.“
„Na toll“, sagt Ryan.
Ich höre, wie er in seinem Rucksack kramt, und im nächsten Moment tanzt der grelle weiße Lichtkegel seiner silbernen Stablampe über die Eisenbahnschwellen, die Steine darunter und das Gewölbe ringsum. Das Licht dringt kaum in die Dunkelheit und die neblige Luft vor.
„Nach rechts“, kommandiert Henri barsch, aber ich spüre seine Unsicherheit.
Langsam bewegen wir uns vorwärts. Ryan richtet seine Taschenlampe nach vorne und auf die Mauer rechts von uns. Ich sehe nichts als Gestrüpp und Geröll und die rauchige Dunkelheit. Dann fällt der Lichtschein auf eine zerquetschte Safttüte, ein
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