Mercy, Band 4: Befreit
Schokoladenpapier, ein paar zerdrückte Bierdosen und eine kaputte Plastiktaschenlampe. Und plötzlich entdecke ich einen Spalt im Stein, der höchstens fünfzig, vielleicht achtzig Zentimeter breit ist. Einen Moment stehen wir zu dritt um die Öffnung herum und ein Schaudern überläuft uns.
„Das ist nicht Ihr Ernst“, protestiert Ryan ungläubig. „Das soll der große Eingang sein?“
Mit gedämpfter Stimme erwidert Henri: „Es gibt noch viele andere Ein- und Ausgänge, soviel ich gehört habe. Aber ich kenne nur den hier, weil ich mal auf einer Fete hier unten war. Wir haben Crêpes gegessen und getanzt und Musik gehört. Es war total verrückt. Wie in einem Traum. Die ganzen Leute hier unten – einfach unbeschreiblich.“
Ich drücke kurz und beschwörend seine Hand und er erwidert den Druck, um mir zu zeigen, dass er verstanden hat.
Dann sagt er: „Und jetzt lasse ich die beiden Turteltäubchen allein, damit sie sich in aller Ruhe in dieser schönen, geschichtsträchtigen Gegend umsehen können.“ Er sieht uns eindringlich an. „Ich bin ein eingefleischter Egoist. Geben Sie meiner Firma also keinen Grund, mich mit unangenehmen Fragen zu behelligen und mir womöglich noch Vorwürfe zu machen.“
Es ist Henris Art, uns ans Herz zu legen, dass wir vorsichtig sein sollen. Dann geht er einfach, ohne Abschied, und stolpert zum Ausgang zurück. Die ganze Zeit hält er sein Telefon vor sich und flucht leise. Ich sehe ihm nach, bis der schwache Lichtschein seines Handy-Displays verschwunden ist.
Ryan und ich kauern uns vor den Spalt in der Mauer und spähen hinein.
„Ich bin langsam dran gewöhnt, dass es gefährlich wird, wenn man mit dir zusammen ist“, sagt Ryan und die Taschenlampe zittert ein bisschen in seiner Hand. „Ich hab immer Angst, ehrlich – Angst vor dem nächsten Schock. Angst, dass ich was Falsches sage oder dass du nicht das Gleiche für mich fühlst wie ich für dich. Aber das hier ist echt der Gipfel. Mehr Horror geht nicht.“
„Ja, ich weiß. Ich hab auch eine Scheißangst, wie die Leute manchmal sagen“, gebe ich zu. Und es stimmt, die Angst fährt mir unter die Haut und flattert in meiner Brust wie ein gefangener Vogel. Ich schwinge einen meiner beiden Stiefel in den Spalt, aber Ryan hält mich auf. „Ich geh als Erster“, sagt er ritterlich, obwohl er schwitzt vor Panik. „Ich hab schließlich die Taschenlampe.“
Ich berühre seine feuchte Wange. „Das ist kein Wettkampf, wer von uns beiden größer oder böser ist“, sage ich leise. „Ich danke dir für deine Fürsorglichkeit, wirklich, aber ich brauche keine Taschenlampe. Lass mich zuerst reingehen.“
Ryan weicht widerstrebend zurück und lockert seinen Griff. Und bevor die Angst mich vollends lähmt, klettere ich schnell durch den Felsspalt und spüre, wie mein Fuß den Boden berührt.
Hier drinnen ist es stockfinster und die Luft riecht nach Kalkstein und Knochenstaub.
Wir irren eine Stunde lang durch ein Labyrinth von unterirdischen Gängen, die links und rechts abzweigen und dann plötzlich in einer Kammer, einem Durchgang oder in einer Kreuzung münden. Manchmal waten wir knöcheltief im Wasser. Aber die meisten Gänge sind trocken und staubverkrustet. Hin und wieder müssen wir uns ducken oder auf allen vieren vorwärtskriechen, und von den Wänden springen uns gruselige Gestalten an – Graffiti-Tags in Neonfarben, lebensgroße Männer- und Frauengestalten, Horrorkreaturen, die in den Stein gemeißelt sind, fauchend und wie im Sprung erstarrt. Ryan flucht die ganze Zeit vor sich hin: „Verdammte Scheiße!“ Immer wieder, wie ein schützendes Mantra, und sein Atem geht rau und keuchend.
In einer großen, kühlen, gespenstisch stillen Kammer stoßen wir auf einen kunstvoll gemeißelten steinernen Esstisch, der direkt aus dem Steinboden aufragt und Ryan stärkt sich mit einem Schokoriegel und einem Schluck Wasser. Er prostet mir mit dem Whisky-Flachmann zu, den Gia ihm eingepackt hat, und bietet mir auch einen Schluck an. Ich schüttle den Kopf, denke an den mit Crystal Meth versetzten Wodka, an dem Irina beinahe gestorben wäre, als ich in ihrem Körper gefangen war.
„Das Zeug ist Gift“, sage ich leise.
„Ich weiß“, erwidert Ryan und hustet ein bisschen, als er den Deckel wieder zuschraubt und den Flachmann in seinem Rucksack verstaut. „Aber mir ist so verdammt kalt, ich brauch das jetzt. Und mit dir zusammen kann man ja nur zum Säufer werden, ehrlich.“
Wir grinsen uns an, dann gibt
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