Mercy, Band 4: Befreit
Liebe und Angst, bis die Müdigkeit schließlich Ryans Menschenkörper übermannt.
Ryan verschläft einen kurzen Zwischenstopp irgendwo im Golf von Aden, wo die Maschine aufgetankt wird. Wir sind über der Bucht von Bengalen, als ich die Stewardess zögernd durch den Mittelgang auf uns zukommen höre. Blitzartig lasse ich mich zu Dunst verschwimmen und bin nur noch ein Energiewirbel, dem nichts entgeht: wie sie sich über ihn beugt – klein, hübsch, blond – und die Hände ringt, ehe sie ihm auf die Schulter tippt. Schnell richtet sie sich wieder auf und weicht zurück, und Ryan wälzt sich erschrocken zu ihr herum, wobei er fast wieder von der Couch herunterfällt.
„Monsieur Da-ley?“, sagt die französische Stewardess vorsichtig, und ich spüre wieder die seltsame Angst, die sie ausstrahlt. Eine riesengroße Angst. Nur ihre Selbstdisziplin und ihre gute Erziehung lassen sie die Fassung wahren.
Dass Ryan sich wild nach mir umsieht, statt seine Aufmerksamkeit auf die Stewardess zu richten, macht die Sache nicht besser.
„Ich soll Ihnen von den Piloten ausrichten, dass wir den gewünschten Umweg über Sofu-iwa nicht machen können“, beginnt sie tapfer, „weil es zu weit und zu gefährlich ist. Wir können höchstens einen kurzen Abstecher nach Izu-Oshima machen, bevor wir auf dem Narita International landen“, fährt sie stockend fort. „Izu-Oshima ist die erste und größte Insel der Izu-Kette.“
Ryan ist so verwirrt, dass die Stewardess alles zweimal sagen muss.
„Warum?“, fragt er schließlich und setzt sich auf. „Haben wir nicht genug … ähm … Sprit oder was?“
Die Stewardess schüttelt den Kopf und zieht sich schon wieder zurück. „Wir können die Nanpo-Inselgruppe nicht überfliegen“, erklärt sie. „Wegen extrem hoher Vulkanaktivität. Es ist zu gefährlich“, wiederholt sie nervös und ihr Englisch wird fahrig. „Tut mir leid, Monsieur. Wenn Sie jetzt bitte an Ihren Platz zurückgehen wollen?“ Damit dreht sie sich um und geht.
Ryan fährt sich durch die kurzen Haare. „Hast du das mitgekriegt?“, fragt er leise.
Ich materialisiere mich neben ihm. Stumm schauen wir uns an.
„Was wir haben, kriegst du nur einmal im Leben. Das ist dir doch klar?“, wispert Ryan schließlich. „Ich warte in der Ankunftshalle auf dich. Du kommst hier nicht weg, ohne mir Lebewohl zu sagen.“
Statt einer Antwort schmiege ich mich an ihn. Er drückt mich heftig an seine Brust und wir liegen uns schweigend in den Armen. So verharren wir, bis der Jet über die Hainan-Insel und die Taiwanstraße fliegt, um dann nach Norden abzuschwenken. Ich werfe einen Blick durch das Fenster und sehe Lichter im Meer schimmern.
„Monsieur!“, ruft die Stewardess von ihrem Platz durch die ganze Maschine nach hinten. „Jetzt sind wir über Izu-Oshima!“
Ryan nimmt mein Gesicht in die Hände, legt seine Stirn an meine und murmelt verzweifelt: „Ich warte auf dich.“
„Ich weiß“, flüstere ich. Und wir umschlingen uns so fest, dass ihm buchstäblich die Luft wegbleibt. Ich löse mich leicht von ihm, lasse meine Umrisse in seinen Armen verschwimmen, und ich spüre, wie Ryan verzweifelt, beinahe schluchzend ins Leere greift.
Dann streift sein vertrauter Atem nicht länger mein Gesicht, denn ich habe die Gulfstream bereits hinter mir gelassen. Jetzt bin ich nur noch ein Energiewirbel in der eiskalten, stürmischen Luft über dem Nordwestrand des Pazifischen Ozeans. Die Maschine ist nur noch ein schwacher Lichtpunkt am Horizont und schwenkt bereits wieder nach Norden ab, Richtung Tokio.
Die Lichter im Meer waren keine Einbildung. Ich sehe Flammen im Wasser. Feuer. Wie eine glühende Kette, die fast schnurgerade nach Süden führt und mir den Weg zur Sofu-iwa-Klippe weist.
Ich frage mich, wen ich dort vorfinden werde.
Die Luft ist von beißenden Gasen und Dämpfen erfüllt.
Es ist früher Morgen, noch vor Tagesanbruch, aber auf einigen der Izu-Inseln schimmert Licht. Ich fliege weiter, fresse Kilometer, bis keine Lichter mehr unter mir sind, nur trügerische Felsausläufer. Steile Klippen ragen aus dem Wasser, Felsen, die nur von Vögeln und einer kargen Vegetation besiedelt sind. Endlich erreiche ich die letzte Insel des Archipels, eine schwindelerregende Basaltklippe, die nach allen Seiten steil abfällt und aus dem Meer ragt wie eine Messerklinge.
Nicht einmal Vögel gibt es auf der Insel und ich finde schnell heraus, warum. In rasendem Tempo schieße ich vom Himmel hinunter und sehe eine
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