Mercy, Band 4: Befreit
einsame Gestalt dort unten sitzen, die im Dunkeln leuchtet. Reine Energie strahlt von ihr ab, in Schleifen und Wirbeln, die langsam in der eisigen Luft verwehen. Die Gestalt macht sich nicht die Mühe, ihr Licht zu verbergen, weil weit und breit niemand da ist, der sie als Engel erkennen könnte. Es ist Uriel, der hoch oben auf dem Felsengipfel auf mich wartet, gut hundert Meter über dem Meeresspiegel. Er ist allein und sein Gewand strahlt heller als eine Leuchtboje, heller als jedes Feuer, das Menschen entzünden könnten.
Plötzlich hebt er den Kopf, spürt meine Nähe, obwohl ich kein Licht verströme und keinen Laut von mir gebe, denn ich bin noch klein, in meiner menschlichen Gestalt.
Wie immer erschauere ich bei Uriels Anblick: Er ist mein Ebenbild, mein männliches Alter Ego. Körperlich gleichen wir uns fast aufs Haar, außer dass Uriel etwas größer ist, breitere Schultern hat und seine Gesichtszüge herber sind als meine. Er könnte mein Bruder sein, mein Zwilling, ohne dass es je eine Erklärung dafür gab. Wir sind, was wir sind.
Als ich noch ungefähr dreihundert Meter vom Gipfel des Felsens entfernt bin, ist Uriel plötzlich verschwunden. Ich nehme eine leichte Bewegung wahr, höre das Zischen eines breiten Flammenschwerts im Dunkeln und spüre, wie sich riesige Flügel durch die Luft schwingen. Ich bin in einem mächtigen Kraftfeld gefangen, erstarre mitten im Abstieg. Uriel lässt mich nicht landen, ja, nicht einmal näher kommen.
Er erkennt mich nicht, denn er brüllt: „ Appare! “ Zeige dich!
Ich bin so überrumpelt, dass ich mich seinem Befehl nicht widersetzen kann. Meine Tarnung löst sich unverzüglich auf, verschwindet einfach, und ich erscheine ihm in meiner wahren Gestalt, bin ganz ich selbst, so wie ich einst erschaffen wurde.
Uriel taucht unter mir auf, den rechten Arm hoch erhoben, eine flammende Waffe in der linken Hand. Er erschrickt, als er mich – sein Ebenbild – sieht, denn er lässt sich zurückfallen, und das Kraftfeld ist plötzlich fort.
Ich lande mit den Füßen voran auf einem Felsüberhang, der so schmal ist, dass nur ein Vogel oder Engel Platz darauf findet.
„Uri“, stoße ich erschüttert hervor, als er die Hand sinken lässt und sein Schwert und seine Flügel sich augenblicklich in Licht auflösen.
„Dich hätte ich zuletzt hier erwartet“, murmelt er verwirrt und blickt mir in die Augen. „Woher wusstest du überhaupt, dass …“
Unversehens erscheint eine lebende Flamme in seiner linken Hand, die gerade noch das Schwert gehalten hat. Uriel lässt das Licht über meine Gesichtszüge, über meine ganze Gestalt wandern, und seine dunklen Augenbrauen ziehen sich ratlos zusammen. Er wittert eine Falle, fürchtet, dass der Teufel seine Hand im Spiel hat. Als er sich endlich Gewissheit verschafft hat, erlischt die Flamme und er lächelt. Sein strenges Gesicht ist wie verwandelt.
„Du lebst“, sagt er und in seiner Stimme schwingt freudiges Staunen mit.
Ich erstarre vor Schreck, als er plötzlich die Hand nach mir ausstreckt, mich umarmt und mir zuflüstert: „Dass du hier bist, in Sicherheit!“
Beinahe verlegen erwidere ich seine Umarmung, und in Uriels Gesicht spiegeln sich dieselben Gefühle wie in meinem – verhaltene Zuneigung, Überraschung, das Aufweichen tief verwurzelter Vorurteile.
„Wir waren immer wie Hund und Katze“, murmelt er, als er mich loslässt.
„Und daran wird sich auch nichts ändern, Bruder“, erwidere ich mit schiefem Grinsen. „Aber es ist schön, dich wiederzusehen. Du ahnst nicht, wie sehr ich mich freue. Jehudiel schickt mich.“
Uriel sieht mich überrascht an.
„Ich soll dir ausrichten, dass er Selaphiel vor Luc in Sicherheit gebracht hat. Selaphiel ist schwer verwundet und wird sich nicht so schnell erholen, aber er lebt.“
Ich sehe die Erleichterung in Uriels Blick.
„Wo sind die anderen?“, frage ich und meine Stimme wird schrill vor Angst. „Gabriel, Raphael, Jeremiel, Barachiel? Und der große Michael?“
Uriels Lächeln erlischt. „Von Jeremiel, Barachiel und Michael habe ich keine Kunde, nur dass sie von Mailand aus Luc und seine Getreuen gejagt haben – den finsteren Hakael und Gudrun, seine Gefährtin, und eine ganze Schar gefallener Ophanim und Malachim aus seinem Gefolge. Ich selbst bin mit Gabriel den beiden Verrätern Jetrel und Schamschiel nach Osten gefolgt, aber Gabriel war mir weit voraus, und ich habe gesehen, wie er gefangen …“
Meine Seele gefriert zu Eis.
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