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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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ich?“ Ich bin den Tränen nahe, und Uriel wirft mir einen angewiderten Blick zu, ehe er in das brodelnde Menschenmeer eintaucht.
    Er wirkt in der Menschengestalt, die er angenommen hat, geradezu lächerlich, wie eine Miniaturausgabe seiner selbst, mit strähniger Collegeboy-Frisur, einer schmalen Metallbrille und einem viel zu schicken Outfit, das wir im Vorbeifliegen auf einer riesigen Plakatwand gesehen haben. Er hat mehrere Anläufe gebraucht, um das Licht herunterzudimmen, das er verströmt. Jetzt ist kein verräterischer Schimmer in seinem Gesicht, an seinem Hals oder seinen Händen mehr zu sehen. Wenn die Leute sich nach ihm umdrehen, dann nur, weil er so perfekt aussieht. Er wirkt einfach zu sauber, zu adrett, zu schön, um wahr zu sein. Aber irgendwie geht er als hochnäsiges reiches Muttersöhnchen durch, das auf dem Heimflug von seinen Ferien in Übersee ist. Neben ihm sehe ich in meiner schwarzen Daunenjacke, schwarzem Pulli, grauen Jeans und Stiefeln und mit meinem hastig zusammengebundenen Pferdeschwanz unglaublich schäbig aus.
    „Ich komme mir so lächerlich vor“, sagt Uriel zähneknirschend. „Also, wie sieht er aus, dein Ryan?“
    „Wie Luc“, entschlüpft es mir, ehe ich mich bremsen kann, und Uriel starrt mich entsetzt an. „Ich meine, wie Luc, wenn er als Mensch geboren wäre“, füge ich schnell hinzu, „eine nettere Ausgabe von ihm, aber mit dunklen Haaren und Augen …“
    Dann verstumme ich, weil ich etwas bemerkt habe: ein winziges Lichtpünktchen, nur ganz klein und schwach, aber es bewegt sich irgendwie seltsam, völlig unberechenbar. Ziellos schießt es herum, huscht zwischen den grellen Weihnachtsdekorationen und leuchtenden Airline-Logos hin und her, an blinkenden Automaten hinauf und über die Gesichter der Schlafenden hinweg, als hielte es dort nach jemandem Ausschau. Dann verschwindet es plötzlich in einer flimmernden Bildschirmwand und taucht nicht wieder auf. Vielleicht habe ich mir das Ganze auch nur eingebildet. Der Flughafen ist so grell erleuchtet wie ein Rummelplatz.
    „Am besten suchen wir getrennt nach ihm“, sage ich und deute auf den Bereich der Ankunftshalle, den Uriel sich vornehmen soll. „Das geht schneller.“
    Ich wende mich rasch ab, ehe er protestieren kann. Ich muss Ryan unbedingt vor ihm finden, weil ich nicht will, dass Uriel mich mit ihm sieht. Nichts in dieser Welt kann ich wirklich als mein eigen betrachten, außer Ryan, und nun muss ich ihn verlassen. Und wenn ich jetzt mit ihm spreche, kann ich keinen Zeugen gebrauchen, der nichts vergisst – niemals.
    Ich konzentriere mich, um Ryans Energie aus den vielen anderen herauszupicken. Aber hier herrschen so viel Lärm und Chaos, dass ich die Störfaktoren nur mit Mühe ausblenden kann. Jedes wiehernde Lachen, laute Schnarchen, wütende Wort lenkt mich ab und führt mich in die Irre.
    Uri ist längst außer Sicht, als der münzgroße Lichtschimmer wieder auftaucht, diesmal zu meinen Füßen wie ein kleiner Hund, der sich bei seinem Frauchen einschmeicheln will. Der Malakh, den ich das erste Mal an einer Straßenecke in Australien gesehen habe, ist jetzt so schwach, dass er weder Angst noch Unbehagen in mir auslöst. Er ist ein Todgeweihter. Und wenn er als letzte Handlung im Leben meine Nähe sucht, warum sollte ich es ihm verwehren?
    „Wenn du weißt, wo er ist, bring mich zu ihm“, flehe ich ihn an.
    Das Licht scheint mich einen Moment lang anzusehen, ehe es – wie als Antwort – zu flackern beginnt. Ohne Zögern führt es mich zwischen den zusammengerollten und schlafenden Gestalten hindurch zu einer Reihe von leeren Gepäckbändern. Sie stehen still und an einem von ihnen lehnt ein großer Typ, der mit seinem Telefon spielt.
    Ryan blickt auf und strahlt vor Freude, als er mich sieht. Ich bleibe wie angewurzelt stehen.
    „Mercy!“, ruft er erleichtert und rennt auf mich zu.
    Der Malakh ergreift erschrocken die Flucht, huscht an einem riesigen Plakat hinauf und verschwindet.
    Ryan zieht mich an sich, aber dann sieht er mein Gesicht und fragt erschrocken: „Was ist?“ Sein Lächeln erlischt und seine Arme umklammern mich wie ein Schraubstock.
    Ich lege meinen Kopf an seine Schulter, und seine Wärme – seine vertraute Energie, sein natürlicher, frischer Körpergeruch – treibt mir wieder die Tränen in die Augen. Langsam tropfen sie auf seine abgewetzte Lederjacke und schimmern dort einen Augenblick wie ein verglimmender Feuerfunke.
    „Ich liebe dich“, schluchze ich los, „ich

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