Meridian - Flüsternde Seelen
überließ ich Tens seinen Gedanken. Er umklammerte zwar meine Hand, doch es schien ihm die Sprache verschlagen zu haben. Vermutlich hatten wir beide nicht damit gerechnet, dass eine persönliche Verbindung zwischen Vater Anthony und uns bestand. Ich hatte angenommen, dass er Juliet kannte, nicht Tens.
Einige Minuten später betrat Vater Anthony das Café und steuerte zielstrebig auf unseren Tisch zu.
»Hallo, Freunde.« Er schlüpfte aus seiner dunkelblauen Jacke aus dickem Wollstoff. Er war durchschnittlich groß, hatte dunkles, graumeliertes Haar und dunkelbraune Augen und war der Typ Mann, an dem ich leicht hätte vorbeigehen können, ohne ihn wahrzunehmen. Allerdings nicht, weil er so unscheinbar gewesen wäre, sondern weil seine Gelassenheit und Ruhe so selbstverständlich waren. Er machte weder durch seine Kleidung noch durch seine Art oder seine Persönlichkeit auf sich aufmerksam. Er war einfach da.
»Was führt euch zu mir?« Vater Anthony schob seinen Stuhl auf die andere Seite des Tisches, damit er Tens und mich ansehen konnte.
Tens warf mir einen verwirrten und hilfesuchenden Blick zu.
»Ist die Frage zu schwierig?«, erkundigte sich Vater Anthony.
Tens nickte.
Ich hielt Tens’ Verlegenheit nicht mehr aus. »Erzählen Sie uns, wie Sie Tens’ Großvater kennengelernt haben?«
»Gern, mit Vergnügen.« Er trank einen Schluck und hielt seine Tasse fest, als könnte er die Wärme des Kaffees durch die Hände aufnehmen. »Ich habe als Kaplan mit Tyee in Vietnam gedient. Damals war ich ein junger Priester und noch nicht ganz trocken hinter den Ohren. Er war einer der besten Kommandanten, die es gab, kümmerte sich um seine Männer und wandte sich an mich, wenn er sich um einen von ihnen Sorgen machte. Auf mich hatte er auch ein Auge. Er hatte bereis während des Zweiten Weltkriegs in Europa und danach in Korea gekämpft, und es war sein dritter Einsatz in Vietnam. Deshalb wusste er, worauf man achten musste und wie man uns Anfängern beibrachte zu überleben. Im Krieg entstehen Freundschaften, so dick wie Treibsand, und zwar mit blitzartiger Geschwindigkeit. Man sieht, wie Menschen sterben und bluten, und hält sie dabei im Arm. Das verbindet.«
»Sind Sie danach Freunde geblieben?«, fragte ich.
»Irgendwann während meines ersten und seines letzten Einsatzes sind wir Brüder geworden. Freundschaft drückt es nur unzureichend aus. Er wurde verletzt – ins Knie geschossen.«
»Ins linke?« Tens’ Blick wurde aufmerksam.
»Ja.«
»Erinnern Sie sich daran?«, hakte ich nach.
»Manche Erlebnisse prägen sich für immer ein. Sein Knie war zerschmettert, zermalmt und verdreht. Ich habe es abgebunden, um die Blutung zu stoppen. Die Zeit, die ich mich über sein linkes Bein beugte, kam mir wie Stunden vor. Er war Linkshänder und sagte, nun würde er nie wieder mit einem Lächeln im Gesicht tanzen.«
Tens nickte. »Er hat gehinkt und jeden Wetterwechsel im Bein gespürt. Ich habe ihn nach den Narben gefragt, die sein Knie überzogen haben wie ein Spinnennetz, aber er hat nie darauf geantwortet.«
»Sicher fehlten ihm die richtigen Worte. Manchmal ist es schwierig, Menschen, die man liebt, etwas mitzuteilen, was ihnen vielleicht weh tun wird. Und deshalb schützt man sie durch Geheimnisse und Schweigen. So lautet der Code. Und das lässt uns nach einem Krieg von innen heraus absterben.« Trauer zeigte sich auf Vater Anthonys Gesicht. »Wir haben uns Mitte der Achtziger aus den Augen verloren. Ich google zwar in regelmäßigen Abständen alte Freunde, konnte jedoch nichts über Tyee entdecken. Er war wie vom Erdboden verschluckt.«
»Sie sind wegen eines bestimmten Krankenhauses nach Seattle gezogen, als meine Großmutter krank wurde.«
»Und deine Mutter?«
»Ich …« Tens verstummte und schüttelte den Kopf.
»Kompliziert?« Ein mitfühlender und verständnisvoller Zug umspielte Vater Anthonys Lippen.
Tens nickte.
»Es hat Tyee das Herz gebrochen, als sie mit deinem Vater durchgebrannt ist. Daran erinnere ich mich noch. In seiner Verzweiflung und Ratlosigkeit hat er mich angerufen.«
»Und was haben Sie ihm gesagt?«, fragte ich.
»Das, was ich allen Eltern sage – bedingungslos zu lieben und da zu sein, wenn ihre Kinder bereit sind zurückzukommen. Was danach geschah, weiß ich nicht.«
»Sind Sie katholischer Priester?«
»Nein, nicht mehr. Nach Vietnam habe ich ein Waisenhaus, ein Kinderheim und eine Schule geleitet.«
»Ein Waisenhaus?«
»Und eine Schule für Kinder vom
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