Meridian - Flüsternde Seelen
Kindergartenalter bis zu zwölf Jahren, in der nicht nur die Heimkinder, sondern auch viele aus Familien in der Nachbarschaft unterrichtet wurden. Sie wurde geschlossen, nachdem es wegen einiger anderer Priester einen Missbrauchsskandal gegeben hatte. Wahrscheinlich haben die Kinder an andere kirchliche oder staatliche Schulen gewechselt.«
»Und die Waisen?«
»Das hing vom jeweiligen Kind ab. Die meisten wurden in Heime im Süden des Bundesstaates verlegt. Einige wurden von Familien in der Gemeinde adoptiert. Es war immer unser Ziel, die Kinder in passenden Familien unterzubringen. Schließlich hatten unsere Möglichkeiten, ihnen die Eltern zu ersetzen, ihre Grenzen.«
»Und jetzt?«
»Nun, ich bin fortgegangen, um beim Aufbau der neuen Regierung in Südafrika zu helfen. Vor einem knappen Jahr kam ich dann zurück nach Indianapolis. Ich engagiere mich ehrenamtlich im Museum, in Suppenküchen und in der Hausaufgabenhilfe, um mich zu beschäftigen. Ich übe nur kein offizielles Amt mehr aus, sondern bin nichts weiter als Tony Theobald.«
Tens räusperte sich. »Ich glaube, Gott interessiert es nicht, ob man einen Priesterkragen trägt.«
Tony lächelte. »Mich auch nicht.«
Wir begleiteten Vater Anthony – Tony – zu seinem Auto und verabredeten uns zum Abendessen mit ihm. Er hatte Fotos von Tyee, die er Tens geben wollte.
Auf der Heimfahrt war Tens noch nachdenklicher und wortkarger als sonst. Ich ließ das Gespräch immer wieder Revue passieren und versuchte zu begreifen, warum meine Tante uns gedrängt hatte, uns auf die Suche nach Tony zu machen. Es schien keine Verbindung zu Juliet zu bestehen. Angesichts dessen, was wir über Juliet wussten, passten ja möglicherweise die Schule und das Waisenhaus ins Bild. Vielleicht aber waren ja auch die Hinweise auf Tens’ Vergangenheit der Grund. Es war, als wollte man ein Kreuzworträtsel lösen, ohne die Fragen zu kennen.
Ich hatte Juckreiz. Mir war zwar inzwischen wärmer, aber etwas stimmte nicht. Meine Haut fühlte sich seltsam an. »Lass uns nach Juliet sehen.«
»Jetzt?« Er ging vom Gas.
Ich deutete auf die Abzweigung. »Jetzt. Ich habe so ein Gefühl. Beeil dich.« Ich stellte mir das Fenster weit offen vor und versuchte, die Seelen zu mir zu locken.
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Kapitel 21
Juliet
W ährend des Großteils meiner Zeit im DG hatte die Heimleiterin die Spielcasinos am Flussufer besucht. So auch jetzt. Als ich mit meiner Gutenachtgeschichte über Schokoladenflüsse und Gummiwelse fertig war und die Kinder schliefen, pirschte ich mich die wackelige Speichertreppe hinunter.
Vor dem Büro der Heimleiterin im Obergeschoss blieb ich stehen. Aus dem Eisenbahnzimmer hörte ich Schnarchen, aus dem Grünen Zimmer das Piepen von medizinischen Geräten. Ansonsten war ich mit meiner Spontanidee allein. »Wenn abgeschlossen ist, lasse ich die Finger davon«, flüsterte ich und streckte die Hand nach dem Türknauf aus.
Der Knauf drehte sich in meiner Hand. Nicht abgeschlossen.
Meine Handflächen waren schweißnass, mein Gesicht glühte. Ich hastete hinein, bevor ich Zeit hatte, es mir anders zu überlegen, und zog die Tür hinter mir zu. Wie erstarrt stand ich in der Dunkelheit und wartete darauf, dass sich meine Augen daran gewöhnten. Dabei flehte ich lautlos meinen Puls an, sich zu beruhigen. Im Mondlicht tastete ich nach dem Schlüssel hinter dem Bilderrahmen. Als meine Finger auf den gezackten Bart trafen, und zwar genau dort, wo Nicole gesagt hatte, ließ meine Angst vor Entdeckung nach.
Bodies Taschenlampe in der einen, den Schlüssel in der anderen Hand, überlegte ich, ob ich es wagen konnte, die Lampe auch zu benutzen. Worauf wartete ich noch? Ich brauchte Licht. Also schaltete ich sie ein, richtete den Strahl jedoch auf meinen Körper.
Ich begann meine Suche in der ersten Schublade. Als ich Akte um Akte durchblätterte, stellte ich fest, dass sie alle aus den letzten beiden Jahren stammten und ordentlich nach Sterbemonat sortiert waren. Also schloss ich die Schublade und machte mich an die nächste. Es mussten Hunderte von Namen und Leben sein, alle beschriftet und nach dem Todestag sortiert.
Deshalb wandte ich mich dem Schrank daneben zu und öffnete eine Schublade. Diese Namen kannte ich. Es waren die Namen von Kindern. Kindern, mit denen ich Tage, Wochen oder Monate zusammengelebt hatte.
In der nächsten Schublade entdeckte ich Kirians Akte, holte sie heraus und studierte seine Geburtsurkunde, Berichte und ärztliche Befunde. Auf der ersten
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