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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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bloßen Gedanken drehte sich mir der Magen um.
    Custos lief neben uns her, rannte manchmal voraus und wartete dann auf uns. Ihre Ohren waren ständig in Bewegung, und sie reckte die Nase, um alle Gerüche aufzufangen, die der Wind herantrug. Als wir das Ende des Tunnelserreichten, schob Tens einen Stoß Zweige beiseite, damit wir uns herauszwängen konnten.
    »Wie hat Custos da durchgepasst?«, fragte ich, während wir den Eingang wieder tarnten. Wir befanden uns unter der großen geschwungenen Steinbrücke, die ich an jenem ersten Tag überquert hatte.
    »Keine Ahnung. Komm.« Tens griff nach meiner Tasche und meiner Hand. »Ganz still.« Er kroch unter der Brücke hervor, die von lodernden Flammen erleuchtet wurde. Schrille Stimmen waren zu hören. Sie riefen etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand.
    Menschen in langen weißen Gewändern liefen in der Ferne hin und her. Ich bemerkte, dass einer abseits stand und den anderen Anweisungen gab. Obwohl der Schein des Feuers eigentlich sein Gewand und sein Gesicht hätte beleuchten sollen, wurde beides von der Dunkelheit verschluckt. Endlich passten die Mosaiksteinchen zusammen, und mir wurde klar, dass es hier nicht um Hexerei, sondern um den Krieg der Aternocti gegen die Fenestrae ging. Perimo hatte sich in eine Gemeinschaft eingeschlichen, die verzweifelt nach Antworten suchte. Und anstatt den Menschen Hoffnung zu geben, hetzte er sie nun gegen den Sündenbock auf.
    Obwohl uns die Brücke ein wenig Schutz bot, konnten wir die Hitze des Feuers spüren. Wir lauschten dem zornigen Donnergrollen, als das Feuer das Haus Brett für Brett und Stein für Stein verschlang. Hagel und Sturm kämpften gegen den warmen Wind, als sei die Erde selbst in die Schlacht gezogen.
    Ich ließ die Kälte des Steins durch den Mantel in meinen Rücken einsickern, um die Bodenhaftung nicht zu verlieren.Es erschien mir, als wären Monate vergangen, seit ich über diese Brücke gekrochen und getaumelt war, ohne zu wissen, was mich im Haus erwartete. Nun brach mir der Anblick das Herz, und ich wurde von tiefer Trauer ergriffen – das Haus, die Liebe, die Geschichten, meine Tante, alles verwandelte sich in einen Haufen Asche.
    Zum Glück bestand der Kern des Hauses aus Stein, sonst hätten wir uns vermutlich nicht retten können. Schwarzer Qualm waberte, und die Menschen standen so dicht beieinander, dass sie mit ihren verschwitzten, rußigen Gesichtern aussahen, als seien sie gerade aus einem Kohlebergwerk gekrochen. Während wir uns im Schutz der Bäume näher heranschlichen, erkannte ich einige Leute aus der Kirche wieder. Es waren aber auch andere dabei, die wie Perimo das Licht schluckten. Bibelverse wechselten sich mit gutturalen Ausrufen ab, bei denen es sich offenbar um Verwünschungen handelte.
    Der eisige Regen verdampfte schon einige Meter vor dem Feuer, übertönte aber alle anderen Geräusche, als er auf die Bäume und die Autos auf der Straße niederprasselte. Die Hitze des Feuers wurde durch die unjahreszeitgemäße Wärme noch gesteigert, in der der Großteil des Schnees geschmolzen war, so dass der Bach nun mehr Wasser führte als gewöhnlich. Da es über die Ufer schwappte, tarnte es unsere Fußabdrücke und unseren Geruch. Custos lief voraus.
    Ich hatte Mühe, mit Tens’ langen, zielstrebigen Schritten mitzuhalten. Schatten und Feuerschein hinter uns verblassten, und die Rufe und die Hitze waren bald nicht mehr wahrzunehmen.
    Wir marschierten immer weiter und weiter, und zwar indie entgegengesetzte Richtung von der Stelle, wo ich mich auf der Suche nach Celia verirrt hatte. Allerdings sah der Wald hier auch nicht anders aus. Von den Bäumen fielen dicke Wassertropfen auf uns herab, doch der Hagel hatte entweder aufgehört oder schaffte es nicht, die Baumkronen zu durchdringen, und konnte uns so nichts mehr anhaben. Die Kälte, die mir tagelang in der Lunge geschmerzt hatte, hatte sich gelegt und einer frischen Luft Platz gemacht, die belebend und kräftigend auf mich wirkte.
    Als Tens plötzlich stehen blieb und lauschte, prallte ich gegen seinen Rücken, denn ich hatte zu Boden geblickt und mich auf meine Schritte konzentriert. »Entsch…«, flüsterte ich.
    Er unterbrach mich mit einem Kopfschütteln.
    Stocksteif verharrte ich hinter ihm und fragte mich, was er wohl gehört haben mochte. Im Wald war es zwar nicht totenstill, aber ich konnte auch nichts Außergewöhnliches wahrnehmen. Woran erkannte er nur die Geräusche, die ihm Sorgen machten?
    »Alles in Ordnung.«

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