Merkels Tochter. Sonderausgabe.
schuldig zu sein. Aber seine Befürchtungen waren unnötig. In der Woche vor Weihnachten erzählte sie ihm, sie wolle sich einen Urlaub gönnen, für ein paar Tage mit ihrem Mann und den Schwiegereltern in die Berge.
Merkel verbrachte am ersten Feiertag ein paar Stunden mit Kurt und Agnes und die Nächte mit Wachdienst im Einkaufszentrum mit Leo, einem Prachtexemplar von Schäferhund. Und während er seine Runden drehte, sah er sie im Geist auf Skiern verschneite Hänge hinunterflitzen, den Schnösel von Ehemann immer zehn Meter hinter ihr. Er sah ihr Lachen, die Lebensfreude in ihrem herben Gesicht. Und plötzlich freute er sich auf den ersten Montagabend im Januar, an dem sie wieder in die Kneipe käme.
Für ihn hatte sich bereits eine Menge verändert, ohne dass er es registriert hatte. Es war auch nicht äußerlich, er lebte immer noch zufrieden in dem spärlich möblierten Zimmer, hatte keine Gardine vor dem Fenster, nur zwei Garnituren Bettwäsche, keine Waschmaschine, kein Radio, keinen Fernseher und kein Telefon. Er fuhr unverändert auf dem klapprigen Damenrad herum, von dem er ganz sicher wusste, dass sich kein Mensch daran vergriff, selbst wenn es tagelang ungesichert an einer Hauswand stand. Die Packtasche für den Gepäckträger, die er sich geleistet hatte, um nicht immer mit einer Plastiktüte am Lenker radeln zu müssen, nahm er jedes Mal ab.
Die Veränderungen fanden im Innern statt. Es war wie ein allmähliches Auftauen. Er hatte eine Tochter, sie mochte ihn, er mochte sie, und er konnte, wie Agnes es immer wieder sagte, wirklich stolz auf sie sein.
Im März erzählte Irene ihm, sie sei schwanger. Es war in den Bergen passiert. Nun war sie bereits im dritten Monat und freute sich unbändig auf ihr Kind. Sie meinte, sie sei doch jetzt genau im richtigen Alter. So wie sie es schilderte, war es seit längerer Zeit geplant. Wie es schien, gingen ihre Pläne immer auf – mit Ausnahme des Hausmeisters, den hatte sie immer noch nicht gefunden. Aber so ein bisschen Verwaltung, das machte sie wahrscheinlich mit links.
Dass ihr die Probleme zu der Zeit manchmal über den Kopf wuchsen und sie nicht wusste, wo sie anfangen sollte, den Berg abzutragen, der sich vor ihr auftürmte, erfuhr Merkel nicht. Sie wollte ihn nicht mit ihren Sorgen belasten, gewiss nicht den Eindruck wecken, es hätte etwas mit ihm zu tun, was auch nicht der Fall war.
Es hatte rosig geklungen, als ihr Schwiegervater es erklärte. Aber ihre solide Kapitalanlage hatte sich bald als solides Ärgernis entpuppt. Zwei von den langjährigen Mietparteien wehrten sich standhaft gegen Modernisierungsmaßnahmen, weil sie befürchteten, dass sich das auf die Miete niederschlug. Zwei andere, ein Frührentner und eine Familie mit drei Kindern, lagen im Clinch miteinander. Der Frührentner schreckte nicht davor zurück, nachts um eins die neue Eigentümerin aus dem Bett zu klingeln, um sich über den unerträglichen Lärm zu beschweren, den die Kinder am Nachmittag veranstaltet hatten. Und statt einer neuen Fassade hätte das Haus viel dringender neue Rohrleitungen gebraucht.
Das hatte sie nicht gewusst, als sie die Sanierungsaufträge verteilte. Friedels Vermögen war dahingeschmolzen wie Eis in der Sonne. Das Finanzamt hatte ja auch seinen Teil haben wollen, Erbschaftssteuer. Und ein Großteil der Erbschaft lag brach. Für Friedels Villa hatte sich noch kein Käufer gefunden. Gernot drängte wieder darauf, sie selbst zu nutzen. Er konnte sich absolut nicht begeistern für das Haus, in das sie nach Möglichkeit noch vor der Geburt ihres Kindes einziehen wollte.
Der Rohbau stand – in einem Neubaugebiet, in dem es noch keine einzige befestigte Straße gab, da müsse er dreimal die Woche mit dem Auto in die Waschanlage. An ein neues Auto für ihn war vorerst nicht zu denken. Es war auch kein Geld mehr da, das er an der Börse hätte verdreifachen können. Und dass sie ausgerechnet in dieser Situation den Winterurlaub genutzt hatte, um eigenmächtig die Pille abzusetzen und ihn aufs Kreuz zu legen, so drückte er das aus, empfand er als den Gipfel der Rücksichtslosigkeit. Es ginge wohl nur noch nach ihrer Nase, seine Wünsche und Bedürfnisse kümmerten sie einen Dreck.
Kein Abend verging mehr ohne Streit, vorausgesetzt, Gernot kam überhaupt nach Hause. Früher hatte er zwei oder drei späte Beratungsgespräche pro Woche gehabt, nun waren es fünf, manchmal sogar sechs. Besonders gute Kunden führte er auch mal am Samstagabend in ein teures
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