Merkels Tochter. Sonderausgabe.
hübscher Bursche war er, glich seinem Vater aufs Haar.
«Pünktlich wie immer, Papa» sagte sie regelmäßig, wenn Merkel mit den Packtaschen zur Haustür kam, wandte sich an ihren Sohn und verlangte: «Sag Opa guten Morgen.»
Es war nur eine rhetorische Aufforderung, reden konnte der Kleine noch nicht, von ein paar Silben abgesehen, Mama und da, wenn er etwas haben wollte. Aber krabbeln konnte er schon, sich an allem hochziehen und schwankend auf seinen stämmigen Beinen stehen. Eine reife Leistung für sein Alter, fand Merkel.
Und brüllen konnte er! Sobald ihm ein Fremder zu nahe kam und seine Mutter nicht in unmittelbarer Nähe war. Fremd war ihm jeder, den er nicht häufig genug zu Gesicht bekam. Merkel bildete da keine Ausnahme, deshalb hütete er sich auch, sich dem Schreihals zu nähern. Kinder waren ja noch nie sein Fall gewesen. Und so kleine schon gar nicht. Ein Meter Sicherheitsabstand, den er nur unterschritt, wenn seine Tochter den Bengel auf dem Arm trug.
Nach der kurzen Begrüßung bei der Tür ging sie immer vor ihm her in die Küche, der Frühstückstisch war schon gedeckt, der Kaffee fertig. Jedes Mal versuchte sie, ihren Sohn zwischen das auf dem Fußboden verteilte Spielzeug zu setzen. Aber das klappte nie, also gingen sie zu dritt in den Keller. Merkel leerte die beiden Packtaschen. Sie sortierte rasch seine Wäsche, stopfte mit einer Hand ein Häufchen in die Trommel der Waschmaschine, hielt das Baby währenddessen mit dem linken Arm auf ihrer Hüfte sitzend. Wenn sie sich dann wieder aufrichtete, ihn anlachte und sagte: «Das war’s erst mal, Papa. Gehen wir rauf und machen es uns gemütlich», dann war Merkel zufrieden.
An dem Dienstag im Juli, an dem sie zum letzten Mal mit ihm frühstückte, brachte Merkel ihr zusätzlich zur Schmutzwäsche eine Hose mit, die er sich montags gekauft hatte, sie musste ein bisschen gekürzt werden. Er ging davon aus, dass Irene das konnte, sie konnte doch alles.
Während im Keller die erste Maschine mit seiner Wäsche lief, saßen sie wie üblich in der Küche. Irene berichtete von der vergangenen Woche. Es war ziemlich hektisch gewesen. Dreimal hatte sie zu ihrem Mietshaus fahren müssen. Zweimal wegen eines Wasserrohrbruchs und einmal, um einen Streit zwischen den verfeindeten Mietern zu schlichten. Der Frührentner hatte sich mal wieder darüber beschwert, dass die Nachbarskinder vor dem Haus Fußball gespielt hatten.
«Wenn der alte Stänker nicht begreifen will, dass die Zeiten sich geändert haben, soll er ausziehen», sagte sie. «Das habe ich ihm klargemacht.»
Auch sonst hatte sie eine Menge Ärger gehabt. Frau Bodewig war wieder mal irgendwo versackt. Ihr Sohn drohte seinen Ausbildungsplatz zu verlieren, weil er seit Tagen zu Hause bleiben musste. Das jüngste Kind war krank, und ausgerechnet die älteste Schwester, ein sechzehnjähriges Mädchen, das sich ebenfalls um die kleineren Geschwister kümmerte, wenn Frau Bodewig zu besoffen oder nicht da war, hatte es der Mutter nachgemacht und war abgetaucht.
Viermal war Irene in der vergangenen Woche für die Familie unterwegs gewesen, hatte das jüngste Kind in ein Krankenhaus und zwei weitere vorübergehend bei einer Pflegefamilie untergebracht, die älteste Tochter gesucht, natürlich auch Frau Bodewig. Und beim Arbeitgeber des ältesten Sohnes ein gutes Wort eingelegt, um Verständnis für die Situation gebettelt.
«Manchmal wusste ich letzte Woche nicht, wo mir der Kopf stand», sagte sie. «Hat aber auch sein Gutes, man denkt nicht zu viel nach, wenn’s richtig rundgeht.»
Merkel grübelte minutenlang, wie sie das wohl meinte. Sie klang härter als sonst, das fiel ihm auf. Da war so ein unnachgiebiger Ton in ihrer Stimme, als sei sie mit ihren Gedanken noch bei dem kinderfeindlichen Frührentner oder bei Frau Bodewig, die sich ihrer Meinung nach nun allmählich zusammenreißen konnte, damit ihre Kinder nicht vor die Hunde gingen. Natürlich war es tragisch, den Mann zu verlieren und plötzlich mit einem halben Dutzend Kindern alleine dazustehen. Aber eine erwachsene Frau sollte die Sache in den Griff bekommen und sich ihrer Verantwortung bewusst werden können, fand sie.
Während sie weitererzählte, wippte sie ihren Sohn auf den Knien, schob ihm hin und wieder kleine Bröckchen von ihrem Toast in den Mund, auf denen er herumlutschte.
Zu allem Überfluss hatte sie am vergangenen Nachmittag auch noch Ärger mit Helmut Ziriak gehabt. Vor einigen Wochen hatte sie bei einer Fahrschule
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