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Merkels Tochter. Sonderausgabe.

Merkels Tochter. Sonderausgabe.

Titel: Merkels Tochter. Sonderausgabe. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hammesfahr Petra
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schreiende Kind vielleicht sofort mit der Spieluhr hätte beruhigen können. Die Plüscheule hatte oben im Bettchen gelegen. Wenn es mit Singen funktionierte, bei ihm hatte es das damals auch immer getan, wenn Mutter Seifert das Lied sang.
    Die letzte Zeile kreiste unablässig durch seinen Kopf, seltsamerweise nur die letzte Zeile, gesungen von der jungen, weichen Frauenstimme. Und genau genommen war es nicht die letzte, sondern die zweite Zeile gewesen, das wusste er.
    In der letzten hieß es: «Daheim ist mein Schätzchen, in der Fremd’ bin ich hier, und es fragt hier kein Kätzchen, kein Hündchen nach mir.»
    Mutter Seifert hatte das immer anders gesungen, die letzte weggelassen, stattdessen in der Mitte eine Zeile dazugedichtet. «Auf dem Zettel steht geschrieben, hab dich lieb, kleiner Schatz, und wo ich auf dich warte, da ist noch so viel Platz.» Und dann kam das: «Lieber Vogel, flieg weiter, nimm ein Gruß mit und ein KUSS, denn ich kann dich nicht begleiten, weil ich hier bleiben muss.» Es hatte immer geklungen, als verdamme sie einen damit zum Leben.
    Vielleicht war es die sanfte Frauenstimme in seinem Kopf, die ihn die ganze Zeit auf der Couch festgehalten hatte. Er hätte längst weg sein können, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre. Und nun, wo ihm das bewusst wurde, wollte Heinen ihn nicht mehr gehen lassen, obwohl Merkel erklärte, dass er keine Zeit hätte und nicht mehr sagen könne als das, was man sah. Er wusste doch nicht einmal, bei welcher Bank sein Schwiegersohn beschäftigt war. Irene hatte mit ihm nie über persönliche Belange gesprochen. Mal abgesehen vom letzten Frühstück, wo es zu persönlich geworden war, um es mit einem Polizisten zu erörtern. Es hatte ja auch nichts mit der Sache zu tun.
    Einer der Kripobeamten fand heraus, wo man Gernot Brandes erreichen konnte. Nur eine halbe Stunde später erschien er, stürzte wie ein Wahnsinniger in die Diele und musste von zwei Polizisten daran gehindert werden, die Küche zu betreten. Er klappte förmlich zusammen, schluchzte, weinte und schrie, nachdem er einen Blick durch die offene Küchentür geworfen hatte. «Wo ist meine Frau? Ich will sofort zu meiner Frau!»
    Heinen begleitete ihn hinauf. Sie lag immer noch oben auf dem Bett. Merkel hörte Brandes oben weitertoben und fühlte es in sich rebellieren. So ein Waschlappen, führte sich auf, als ginge es ihm persönlich ans Fell. Dabei hatte er sich doch kaum noch um sie gekümmert, seine Zeit lieber mit Geldsäcken verbracht.
    Agnes hatte so eine Bemerkung gemacht vor ein paar Wochen. Da hatte sie ihm erzählt, Irene sei den ganzen Samstag mit dem Kleinen bei ihr gewesen, weil sie keine Lust gehabt hätte, alleine zu Hause zu sitzen. Er hatte sich gewundert, was ihr Mann denn samstags triebe, da hätten die Banken doch zu. «Gernot ist wohl sehr ehrgeizig», hatte Agnes gesagt.
    Das war Merkel auch einmal gewesen, aber ihm war es nie um Geld gegangen, nicht um ein schickes Auto, um Seidenhemden oder einen Diamantring am kleinen Finger, nur um Gerechtigkeit gewissermaßen, darum, dass kein Verbrechen ungesühnt blieb. Es war so lange her und fast nicht mehr wahr. Heute jedenfalls war alles ganz anders.
    Je länger er auf der Couch saß, umso unwichtiger wurde alles. Es kam ein Punkt, da vergaß er sogar seinen Dienst und dass er den Hund noch abholen musste. Er hätte noch stundenlang so sitzen und den anderen bei der Arbeit zuschauen können, ohne dabei an etwas anderes zu denken als an das Lied und die Botschaft, die es beinhaltete. «Lieber Vogel, flieg weiter, nimm ein Gruß mit und ein KUSS, denn ich kann dich nicht begleiten, weil ich hier bleiben muss.»
    Heinen brachte Brandes ins Wohnzimmer, wo er sich so weit beruhigte, dass er seinen Schlips geradeziehen und ein paar Fragen beantworten konnte. Aber viel konnte Irenes Mann nicht sagen. Er regte sich nur auf, dass er sie hundertmal gewarnt und ihren Umgang in keiner Weise gebilligt habe. Terminkalender hatte sie nicht geführt, keine Notizen über die Leute gemacht, mit denen sie noch zu tun gehabt hatte. Es gab auch kein Adressenverzeichnis.
    Sie sei sehr verschwiegen gewesen, erklärte Gernot Brandes. Solange sie ihren Beruf noch ausgeübt habe, hätte er das verstanden. Später jedoch, als sie nach der Geburt des Kindes den ganzen Kram mit ins Privatleben hinüberschleppte, habe die Sache für ihn anders ausgesehen. Da hätte sie doch einmal erwähnen können, wer die Leute waren, mit denen sie sich

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