Merkels Tochter. Sonderausgabe.
hin, sie reckte sich auf Zehenspitzen, drückte ihm die feuchten Lippen auf die Bartstoppeln. Er wischte mit dem Handrücken darüber und sagte: «So, jetzt wird aber geschlafen, ist doch höchste Zeit.» Sie lief auf ihren nackten Füßen zur Tür, war verschwunden, ehe man sich umgedreht hatte.
Heike lächelte und sagte: «Sie hatte Angst, dass ich deine Pantoffeln unter der Heizung vergesse. Außerdem kann sie ohne das Gutenachtküsschen von Papa sowieso nicht schlafen, hat sie mir erzählt. So ist das mit kleinen Mädchen, Hein. Papa kommt noch vor dem lieben Gott.»
Fünf Jahre alt war sie gewesen. Und jetzt war sie tot. Ihm war so elend kalt. Und die Zeit reichte nicht, noch schnell zu seinem Zimmer zu fahren und den dicken Pullover zu holen, den sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Er kam ohnehin über eine Stunde zu spät zum Dienst. Sie hatten schon einen Kollegen als Vertretung für ihn eingesetzt. Darum kümmerte er sich nicht, fuhr weiter zum Einkaufszentrum, nahm seinem Kollegen den Hund ab und schickte ihn nach Hause.
Dann drehte er zähneklappernd seine Runden, fühlte sich wie vor Jahren in der Zelle. Er wehrte sich nach Kräften gegen das, was auf ihn einstürmte. All die Bilder, von denen er gar nicht gewusst hatte, dass er sie noch in seinem Kopf mit sich trug.
Die halbe Zeit lief sie vor ihm her in dem langen Nachthemd, mit den Rüschen am Saum, den nackten Füßen, den dünnen Zöpfen, der Puppe im Arm und dem schmachtenden Blick. Ein kleines Mädchen, das Papa anhimmelte, ihm die Pantoffeln vorwärmte, weil er immer fror, selbst im Hochsommer. Ihm mochte der Schweiß den Rücken hinunterlaufen, er hatte zumindest kalte Füße, saß damit wohl immer noch in Eis und Schnee neben seiner Mutter, die zusammengebrochen war, einfach liegen blieb. Da mochte er noch so weinen, an ihr zerren und betteln: «Steh auf, Mama, steh doch auf.» Sie rührte sich nicht mehr.
Und das kleine Mädchen mit den dünnen Zöpfen und den vor Liebe überquellenden Augen war erwachsen geworden, hatte sein Gefühl auf viele verteilt, für ihn nur noch ein Frühstück pro Woche gehabt, seine Wäsche gewaschen. Und ab und zu: «Ich habe dir ein Paar Socken dazugelegt, Papa. Jetzt mach nicht so ein abweisendes Gesicht, es sind nur ein Paar Socken, die kosten nicht die Welt. Die grauen, die in der Wäsche waren, sind so durchgescheuert, da lohnt das Stopfen nicht mehr.» Hatte sie das überhaupt gekonnt, stopfen und nähen?
Wie seine Hose da über der Stuhllehne gehangen hatte, als sei sie frustriert an die Seite gelegt worden. Aber wozu hatte sie dann eine Nähmaschine? Ihre Gardinen hatte sie selbst genäht, das wusste er. Gardinen waren vermutlich schwieriger zu nähen als so eine verfluchte Hose, die nur zwei Zentimeter gekürzt werden musste, was er ohnehin nicht verstanden hatte, weil es seine Größe war. Seit Jahr und Tag trug er diese Größe, und plötzlich war eine Hose zu lang. Da sollte man fast annehmen, man sei geschrumpft. Er hätte sich die Zeit nehmen sollen, die Hose im Laden anzuprobieren, dann hätte er das sofort gesehen und sie nicht gekauft. Dann wäre diese Nacht noch gewesen wie die vergangene. Er hätte noch einmal gründlich nachdenken können über das, was er ihr am nächsten Dienstag sagen wollte. Er hätte immer noch geglaubt, eine Tochter zu haben.
Er führte den Hund an der kurzen Leine, sprach nicht mit ihm wie sonst. Nicht einmal mit Leo konnte er reden. Nur die Treppen hinauf und hinunter, über die schwach beleuchteten Gänge. Im Untergeschoss der große Supermarkt, wo er nie einkaufte, weil sie dort happige Preise hatten. Parterre der Laden mit den Sportartikeln, eine Bäckereifiliale, die Spielwarenhandlung, wo er die Plüscheule für den Jungen, und das Elektrofachgeschäft, wo er die Kaffeemaschine für sie gekauft hatte.
Sonderangebot, um die Hälfte runtergesetzt, weil die Kanne einen Sprung hatte. Und sie hatte sich trotzdem darüber gefreut, jedenfalls so getan. Vielleicht hatte sie gedacht, er sei ein armer Schlucker, hätte nicht mehr Geld ausgeben können. Oder sie sei ihm nicht mehr wert. So war es nicht gewesen.
Der Hund zog ihn zur nächsten Treppe. Im ersten Stock des Einkaufszentrums waren die feineren Läden untergebracht. Ein Reisebüro, zwei Nobelboutiquen, eine für Damen, eine für Herren, ein Pelzhändler und ein Juwelier. Wenn irgendetwas gewesen wäre in dieser Nacht, sie hätten den Pelzhändler und den Juwelierladen zur gleichen Zeit ausräumen können, Merkel
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