Merkels Tochter. Sonderausgabe.
Grund, den jeder verstanden hätte. Oder zu Weihnachten, wer machte denn mit den Eltern Urlaub im Schnee und ließ die Frau mit einem Baby allein zu Hause?
Wenn man erst richtig darüber nachdachte, fielen einem doch ein paar Ungereimtheiten auf. Von einem Mann, der ganz normal bei einer Bank angestellt war, sollte man annehmen, dass er sein Geld während der üblichen Geschäftszeiten verdiente. Mal ein paar Überstunden, die mochte es ja geben. Aber warum sollte er auch noch die Samstage und Sonntage opfern? Wurde er deshalb etwa besser bezahlt, bekam er Provision?
Das konnte Merkel sich nicht vorstellen. Er fragte Kurt danach und veranlasste ihn damit zu einem irritierten Stirnrunzeln. «Wie kommst du denn jetzt darauf, Hein?»
«Fiel mir gerade so ein», sagte er.
Und dann fiel ihm auch wieder ein, dass sie gesagt hatte: «Du hättest ihr einen Tritt verpassen können, Papa. Das
ist mein Standpunkt. Wenn mich einer tritt, trete ich zurück.»
Das klang ja fast, als hätte sie mit dem Gedanken gespielt, sich von ihrem Mann zu trennen, als hätte sie endlich eingesehen, dass dieser Schönling absolut nicht zu ihr passte und sie besser daran tat, ihm den Koffer vor die Tür zu stellen. Vielleicht hatte sie gehofft, dass er als ihr Vater ihr ein wenig zur Seite stand bei der bevorstehenden Trennung, damit sie nicht ganz alleine war mit dem Baby, ihren Häusern und all dem Ärger.
Sie hätten wirklich eine Menge zu reden gehabt am nächsten Dienstag. Über ihre Enttäuschung und ihre Sehnsucht und wie sie damit umging. Ob sie es auch hin und wieder brauchte, dass ein Mann ihr das Gefühl gab, sie sei schön, reizvoll und begehrenswert. Und wenn es nur einer wie Ohloff war, der sie anhimmelte und dabei seinen Schlafzimmerblick bekam. Der jeden Montag in der Kneipe schwärmte, was für eine tolle Frau sie sei. Hatte sie sich deshalb so oft mit Ohloff abgegeben? Für ein bisschen Selbstbestätigung?
Darauf bekäme er nie mehr eine Antwort. Und das war mehr, als er verkraften konnte.
Aber das würde Kurt nie verstehen. Kurt begriff ja nicht einmal, was er ihm antat mit diesem Kaffeenachmittag außer der Reihe und den Spekulationen, wann man sie beerdigen könne. Noch war die Leiche nicht von der Staatsanwaltschaft freigegeben. Es wusste auch niemand, ob Gernot Brandes daran dachte, sie zu informieren.
Agnes schlich mit verweintem Gesicht herum wie ein Gespenst, holte schluchzend und schniefend einen großen Schuhkarton voller Briefe aus dem Schrank, legte vier Dutzend verblichene Fotos dazu und ging ihm mit ihren Samthandschuhen mehr auf die Nerven als jemals zuvor. Hein hinten, Hein vorne. Nimmst du noch ein Stück Streusel, Hein? Willst du noch einen Kaffee? Kannst doch sicher noch einen vertragen, hast ja eine lange Nacht vor dir.
Natürlich waren die Nächte lang, aber auch einigermaßen erträglich. Da ginge er nur mit dem Hund durch die schwach beleuchteten Passagen. Und wenn er nicht gerade an den Auslagen des Juweliers vorbeiging, erinnerte überhaupt nichts daran, dass er eine Tochter gehabt hatte.
Die kleine goldene Uhr lag immer noch im Schaufenster. Sah aus, als müsse er das Ding kaufen, damit es endlich verschwand. Er spielte tatsächlich mit dem Gedanken, es zu kaufen, hübsch einwickeln zu lassen, in Goldpapier mit Schleifchen. Und es ihr im Oktober aufs Grab zu legen. «Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Irene. Und was ich dir noch sagen wollte. Du warst mir sehr wichtig. Auch wenn das vielleicht nie so ausgesehen hat. Ich hab’s eben leider zu spät begriffen. Aber ich wäre beinahe umgekehrt am letzten Dienstag. Es hat nicht viel gefehlt, ehrlich nicht, und ich hätte dich einmal in den Arm genommen.»
Dass er es nicht getan hatte, dass er am Ende nicht einmal die wenigen Schritte bis zu ihrem Bett gegangen war, würde er sich vermutlich nie verzeihen. Und deshalb waren die Vormittage entschieden länger als die Nächte. Am Samstag, auch an dem Sonntagmorgen hatte er sich von einer Seite auf die andere gewälzt und das Gefühl gehabt, sich neben ihr zu wälzen.
Das gleiche Bett. Und wenn er hingegangen wäre, was hätte er denn schon großartig kaputtmachen können? Selbst wenn er den wichtigsten Beweis zertrampelt hätte, in solch einem Moment pfiff man doch auf den Polizisten, der man einmal gewesen war. In solch einem Moment war man nur ein Mensch, ein Mann und ein Vater, dem mal wieder das Herz aus dem Leib gerissen wurde, wo er es doch gerade erst wieder gefunden hatte auf der
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