Merkels Tochter. Sonderausgabe.
Müllkippe seines Lebens.
Bei Kaffee und Butterstreusel fuhr Kurt fort mit seinem Psychoterror, erzählte von komplizierten Laboruntersuchungen, wollte ihm damit suggerieren, dass alles getan wurde. Sie hatten ja heute ganz andere Möglichkeiten als vor zwanzig Jahren, wo man sich glücklich hatte schätzen müssen, wenn man ein paar gute Fingerabdrücke und brauchbare Zeugenaussagen bekam. Aber mit der neuen Technik dauerte das eben auch alles seine Zeit.
Damit kam Kurt noch einmal auf Merkels Schuhe zurück, die man wirklich dringend brauche. An Ziriaks Schuhen hatten sie sich in der Forensik die Zähne ausgebissen. Die sollten nun ins LKA-Labor nach Düsseldorf geschickt werden. Vielleicht konnten die etwas mehr feststellen, als dass die Schuhe mit Flüssigseife und einer groben Bürste geschrubbt worden und dass sie zuvor höchstwahrscheinlich innen mit Blut verschmiert gewesen waren.
«Was soll denn der Aufwand?», fragte Merkel. «Ihr habt seine Fingerabdrücke auf der Tatwaffe, das reicht doch, oder?»
«Eigentlich schon», sagte Kurt.
Eigentlich! Merkel benutzte das Wort selbst gern, deshalb wusste er genau, dass es meist das Gegenteil meinte. «Magst du noch ein Stück Streusel, Hein?» – «Eigentlich bin ich satt.» – «Noch ein Kaffee, Hein?» – «Eigentlich hab ich genug.» Das praktizierte er schon den
halben Nachmittag.
«Gibt’s doch Unklarheiten?», fragte er.
Die gab es in der Tat. Aber zuerst schüttelte Kurt den
Kopf und benutzte noch einmal die Formulierung, die alles infrage stellte: «Eigentlich nicht. Ich will es nur so genau wie möglich haben, vor allem in so einem Fall, wo es kein Geständnis gibt.»
«Wozu braucht ihr eins, bei der Beweislage?», erkundigte Merkel sich. So weit war er mit seinen Gedanken doch nicht weg, dass ihm nicht der feine Unterton in Kurts Stimme aufgefallen wäre. Mit langsam erwachendem Misstrauen schob er noch eine Frage nach: «Es gibt doch keine Zweifel an Ziriaks Schuld, oder?»
«Eigentlich nicht», sagte Kurt zum dritten Mal. «Jetzt hör mir auf mit eigentlich», verlangte Merkel ungehalten. «Reden wir Klartext. Was stimmt da nicht?»
Kurt machte eine Bewegung mit den Händen, hob gleichzeitig die Schultern an, ließ sie wieder sinken. Er schien unsicher, wie viel er ihm zumuten durfte. «Ich kann noch nicht viel sagen, Hein», begann er. «Da sind ein paar Ungereimtheiten, die für mich keinen Sinn ergeben.»
«Und die wären?», fragte Merkel.
Kurt atmete einmal tief durch und referierte minutenlang über die Dreckröllchen auf dem Teppich vor der Couch im Wohnzimmer. Als Ungereimtheit konnte man sie nun nicht gerade bezeichnen. Von der Form her passten die Röllchen exakt zum Profil von Ziriaks Schuhen. Nur waren Ziriaks Schuhe keine Spezialanfertigung, sie stammten aus einer Massenproduktion, was bedeutete, dass etliche hundert Leute damit herumliefen, darunter auch der Belastungszeuge, ausgerechnet der Bauarbeiter, der Ziriak am Mittwoch aus dem Rosenweg hatte kommen sehen. Zum Glück hatte der Mann für die fragliche Zeit ein Alibi, das von drei Kollegen bestätigt wurde.
Der Dreck stammte nachweislich von einer Baustelle und nicht von der staubigen Straße. Er enthielt Sand und Beton. Dass er nach Ziriaks Besuch am Montag liegen geblieben war, erschien unwahrscheinlich, weil Irene am Mittwochmorgen noch mit dem Staubsauger im Wohnzimmer gearbeitet hatte. Laut Auskunft seiner Mutter war Ziriak am Mittwochmorgen kurz nach zehn aus der Wohnung gegangen. Die Straßenbahn fuhr im Viertelstundentakt. Er hätte also schon vor elf Uhr in der Gartenstadt sein und sich eine Weile auf einer Baustelle herumtreiben können.
Aber jeder einigermaßen gute Anwalt würde entweder behaupten, Irene sei am Mittwoch in Eile und nicht gründlich gewesen, oder darauf verweisen, dass in dem Viertel mehr als ein Bauarbeiter beschäftigt war. Wie sollte man jetzt noch feststellen, wer am Mittwoch welche Schuhe getragen hatte? Die Terrassentür war die ganze Zeit offen gewesen, das mochte einer der Arbeiter von den Grundstücken aus der Querstraße als Einladung verstanden haben.
Merkel fühlte kalte Wut in sich aufsteigen. Von wegen: Klarer Fall! Bei einem klaren Fall hielt man nicht Ausschau nach weiteren Verdächtigen. Kurt beeilte sich, ihm zu versichern, dass man das auch nicht tat. Einen Fremdtäter schloss man völlig aus. Es gab kein Anzeichen für ein Sexualverbrechen, keine Kampfspuren, gestohlen worden war auch nichts, obwohl eine Menge Geld im
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