Merkels Tochter. Sonderausgabe.
Sie hatte es auch versäumt, sich das Kennzeichen des Fiats zu merken. Um das irgendwie auszugleichen, hatte sie auch noch den ThomasGottschalk-Verschnitt mit dem roten Opel Kadett erwähnt, der sich ihr einmal als Irenes Freund vorgestellt hatte und seit Wochen durch den Garten gekommen war. Ein Liebhaber, was sonst? Doch den durfte Heinen gar nicht erwähnen, wollte er es sich nicht für den Rest seiner Dienstzeit mit seinem obersten Chef verderben.
Heinen beschränkte sich auf Irenes Aktivitäten vom Mittwochvormittag, soweit Ulla Fendrich sie registriert hatte. Etwas anderes hatte Merkel ihm ja nicht abverlangt. Er schloss mit der Drückerin, die um halb elf bei Ulla Fendrich geklingelt hatte, sofort weiter zu Irene gegangen und zu einem Kaffee eingeladen worden war. «Die Frau ist schätzungsweise eine halbe Stunde geblieben, war vermutlich noch bei den bewohnten Häusern am Ende der Straße.»
Von der jungen Frau mit dem Zeitungspacken auf dem Arm hörte Merkel zum ersten Mal. Aber sie interessierte ihn nicht. «Wenn sie um halb zehn die Hemden aufgehängt hat», resümierte er gedankenverloren. «Das war eine Sechzig-Grad-Wäsche, dauert anderthalb Stunden. Dann hat sie die um acht in die Maschine gesteckt, noch bevor sie gefrühstückt hat. Sie hatte den Haushalt gut im Griff, teilte sich die Zeit geschickt ein. Musste sie auch, sonst hätte sie nicht viel geschafft mit dem Jungen.»
Er schüttelte sich leicht, als ihm bewusst wurde, was er da von sich gab. Sentimentales Geschwätz! Meine Tochter, die perfekte Hausfrau. Um es ein wenig abzuschwächen, zeigte er auf die muffigen Wäschestücke, die er in den gelben Korb gezerrt hatte. «Das hier war eine Vierzig-Grad-Wäsche, dauert genau eine Stunde. Und wenn sie gleich nach den Hemden durchgelaufen ist, wäre sie um halb elf fertig gewesen.»
Heinen lächelte erneut, es war eher schon ein amüsiertes Grinsen. «Halten Sie das für wichtig?»
«Ja», erwiderte Merkel bestimmt. «Sogar für sehr wichtig. Irene hätte das Zeug nicht ohne Grund längere Zeit in der Maschine gelassen.»
Er versuchte es nüchtern zu durchdenken. Um zehn hatte sie den Jungen ins Bett gebracht und mit der Arbeit an seiner Hose begonnen, er war völlig sicher, dass sie kurz nach zehn den ersten Saum aufgetrennt hatte und nicht erst um halb zwölf. Sie hatte doch gesagt: «Wenn der Kleine im Bett ist, habe ich Zeit.»
Um halb elf kam die Drückerin und blieb etwa eine halbe Stunde. In der Zeit konnte sie nicht in den Keller gehen, hatte vermutlich auch die Arbeit an der Hose unterbrochen und sich mit der Frau unterhalten. Dann wollte sie fertig werden, ehe der Junge aufwachte. Die Wäsche aufhängen konnte sie mit ihm, in Ruhe nähen nicht. Aber dann kam Ziriak. Sie hatte die Wäsche bestimmt nicht einfach vergessen. Das wäre ihr nie passiert, ihr nicht. Sie war ordentlich, immer korrekt und zuverlässig.
Der muffige Geruch aus dem Wäschekorb trieb ihm Tränen in die Augen. Es musste der muffige Geruch sein, geweint hatte er noch nie, nicht einmal vor endlosen Zeiten in Eis und Schnee und auch nicht, als Mutter Seifert heiratete und das Kinderheim verließ. Als er sich nur noch erinnern konnte an das Lied, das sie ständig auf den Lippen gehabt hatte. «Lieber Vogel, flieg weiter, nimm ein Gruß mit und ein KUSS.»
Heinen tat so, als sähe er die Tränen nicht, ließ ihn gewähren, protestierte auch nicht, als er die Wäsche zurück in die Trommel stopfte und nach dem Karton mit dem Waschpulver griff. Er kippte einen Messbecher voll Pulver in die Maschine, stellte die Temperatur ein, wie er es von ihr so oft gesehen hatte, drückte den Knopf. Das war er ihr schuldig, das auf jeden Fall, einmal für sie tun, was sie so oft für ihn getan hatte.
Als er sich aufrichtete, erklärte er beinahe aufsässig: «Das kann ja nicht so bleiben. Ich lasse es nochmal durchlaufen. So viel Zeit werden Sie haben. Dann hänge ich es hier auf. Oder darf ich das nicht?»
Er durfte so gut wie alles. «Lassen Sie ihn tun, was er für richtig hält», hatte Kurt Seifert befohlen, ehe Heinen aufbrach. «Und wenn er die ganze Bude auseinander nimmt, er muss sich damit beschäftigen, um es zu verarbeiten. Vielleicht fällt ihm ja auch etwas auf. Irgendeine Kleinigkeit, der wir keine Bedeutung beigemessen haben. Achten Sie nur auf seine Reaktionen, erklären wird er Ihnen wahrscheinlich nichts.»
Heinen sah keine außergewöhnliche Reaktion, nur einen alten Mann, der sich seiner Tränen schämte und im
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