Merlin und der Zauberspiegel
beobachtete,
krampften sich plötzlich meine Finger um meinen Stock. Jetzt wusste ich, aus welcher Zeit diese Szene war. Denn ich kannte
den Jungen.
Ich beobachtete mich selbst.
Verwundert betrachtete ich mein Leben vor Jahren. Die Gestalt im Nebel war zwar an den Rändern verschwommen, aber so scharf,
wie man es sich nur wünschen konnte.So scharf wie der Schmerz jener Tage. Der Junge schaute unsicher auf eine bestimmte Hütte am Rande des Dorfs und ich wusste,
dass er überlegte, ob er die gefundene Blume der Frau zeigen sollte, die jene Hütte mit ihm teilte. Der Frau, die behauptete
seine Mutter zu sein, obwohl sie sich weigerte ihm mehr über seine Vergangenheit zu erzählen. Oder über ihre.
Plötzlich erstarrte der Junge. Sehr langsam wandte er sich ab von der Hütte – und mir zu. Seine Augen, schimmernd wie schwarze
Monde, musterten mich so nachdenklich, wie mein zweites Gesicht ihn musterte. Dann, ganz plötzlich, hatte ich ihn direkt vor
Augen. Seine Umgebung, sogar die Blume in seiner Hand waren verschwunden – nur sein Gesicht blieb. Ich schaute in dieses Gesicht,
so viel jünger und hübscher als meines, als würde ich in einen magischen Spiegel sehen.
Mit einem Mal veränderte sich sein jugendliches Antlitz. Der Schimmer schwand aus seinen Augen; tiefe, gezackte Narben erschienen
auf den eben noch glatten Wangen und der Stirn. Die Nase bog sich nach unten, während das knochige Kinn länger wurde. Doch
nichts an ihm veränderte sich so dramatisch wie sein Gesichtsausdruck: Entsetzt griff er sich an die Wangen und krallte die
Finger hinein.
»Geh zurück!«, rief er mit einer Stimme, die wie meine klang. »Du bist nur ein Junge und du bist verletzt – für immer blind.
Du wirst nur Leid erfahren, wenn du hier bleibst. Geh zurück, solange du es kannst!«
»Aber ich kann nicht zurück«, schrie ich und schwankte an meinem Stock. »Ich brauche Hilfe – und wenn ich sie nicht bald finde,
sterbe ich.«
»Nicht hier«, brüllte er. »Hier wirst du bestimmt – oh, die Flammen! Sie kommen zurück. Sie werden dich wieder verbrennen!«
Instinktiv schlug ich die Hände vors Gesicht. Wie der Junge griff ich nach den tiefen Narben, die mein Fleisch furchten. Ich
wusste, dass ich sie immer spüren würde, selbst wenn ich einen so dichten Bart trüge, dass er sie bedeckte, genau wie ich
immer den Schrecken jenes Tages empfinden würde.
In diesem Moment hörte ich eine andere Stimme, die meinen Namen rief. Während ich versuchte das Gleichgewicht zu halten, fuhr
ich herum und sah eine weitere Gestalt aus den Nebelschleiern treten. Dunstfäden teilten sich und enthüllten ein anderes Gesicht,
das ich gut kannte – das Gesicht meiner Mutter.
»Emrys«, flehte sie, die saphirblauen Augen eindringlich auf mich gerichtet. »Hör auf meine Warnung, mein Sohn! Du wirst nur
verletzt werden – wieder verbrannt –, wenn du dich zu weit von Fincayra entfernst.«
Schwach schlug ich auf den Nebelring, der sich um meinen Arm wand. »Aber ich muss weggehen, um geheilt zu werden.«
»Nein, mein Sohn.« Sie schüttelte den Kopf, ihr goldenes Haar streifte die Wolken um sie herum. »Du hast selbst die Macht,
dich zu heilen. Weißt du das immer noch nicht?«
»Mutter, nein. Das ist zu ernst.«
Sie lächelte liebevoll. »Aber du bist ein Heiler, mein Sohn. Ja, das bist du und wirst es immer sein. Ein Heiler mit bemerkenswerten
Gaben.« Durch die Nebel winkte sie mir. »Komm jetzt zu mir nach Hause. Hier entlang. Ich werde dich führen wie vor langer
Zeit.«
Verwirrt schaute ich zurück auf das entsetzte Gesicht des Jungen. »Folge ihr nicht«, drängte er. »Dieser Weg führt nur zu
Schmerz, noch mehr Schmerz.«
Plötzlich tauchte ein anderes Gesicht auf – diesmal in den Wolken über mir. Ich spürte, wie der dunkle Schatten auf mich fiel
und den kleineren Schatten verdeckte, der zu meinen Füßen bebte. Vorsichtig schaute ich hinauf und blinzelte in den hellen
Nebelwirbel.
»Merlin«, knurrte der Mann mit dem Gesicht so hart wie gemeißelter Stein. »Ich bin es, dein Vater, der dich ruft – der dir
befehlen würde, wenn du nur gehorchen wolltest.«
Mit großer Anstrengung hob ich mich auf meinem Stock etwas höher und reckte das Kinn. »Du hast mir noch nie befehlen können.«
»Zu deinem dauernden Schaden!«, brüllte der Mann, sein Mund war zu einer bleibenden Grimasse der Missbilligung verzerrt. »Denn
du hast zu lange auf andere gehört, die dir
Weitere Kostenlose Bücher