Merlin und die Feuerproben
Nadellager auf und konzentrierte mein zweites Gesicht auf die Farngruppe, bei der sie eingeschlafen
war. Plötzlich blieb mir fast das Herz stehen. Rhia war weg!
Ich setzte den Igel ab und achtete nicht auf sein klagendes Gewimmer, während ich aufstand. Mit meinem zweiten Gesicht spähte
ich angestrengt zwischen den schattigen Ästen und dunklen Stämmen des Gehölzes hindurch. Wohin war sie gegangen? Nach unseren
vielen Wanderungen war ich daran gewöhnt, dass sie tagsüber umherstreifte, um Nahrung zu suchen, einer Hirschfährte zu folgen
oder ins kühle Wasser eines Bergsees zu springen. Doch bei Nacht hatte sie noch nie das Lager verlassen. Hatte etwas ihre
Neugier geweckt? Oder … war ihr etwas zugestoßen?
Ich legte die Hände an den Mund. »Rhia!«
Keine Antwort.
»Rhia!«
Nichts. Im Wald schien es ungewöhnlich ruhig zu sein. Keine Zweige knackten oder ächzten, keine Flügel flatterten. Nur das
anhaltende Wimmern des Igels durchbrach die Stille.
Dann hörte ich von irgendwo hinter den Farnen eine vertraute Stimme. »Musst du so laut schreien? Du weckst noch den ganzen
Wald.«
»Rhia!« Ich griff nach Stock, Schwert und Lederbeutel. »Wo in Dagdas Namen bist du?«
»Hier draußen natürlich. Wo soll ich sonst die Sterne betrachten?«
Ich schnallte meinen Schwertgurt um und lief durch die Farne. Immer wenn ich mich unter den Tannenästen duckte, riss ein Zweig
an meiner Tunika. Plötzlich lichtete sich das Gehölz. Eine kalte Brise blies mir ins Gesicht. Ich stand am Rand einer kleinen,
mit Steinen übersäten Wiese.
Zu meiner Linken sprudelte eine Quelle aus dem Boden und bildete zwischen Binsen einen Teich. Daneben lag ein flacher moosbewachsener
Felsbrocken. Darauf saß Rhia, die Arme um die Schienbeine gelegt und das Gesicht dem Himmel zugewandt.
Als ich näher kam, verflüchtigte sich mein Ärger. Sie strahlte so viel Frieden, so viel innere Ruhe aus. Wie konnte ich ihr
böse sein? Ich lehnte meinen Stock an den Stein, setzte mich neben sie – und schaute.
Unendlich viele Sterne leuchteten über uns. Wie Sänger in einem großen himmlischen Chor wanderten sie über das Gewölbe, durch
ausgestreckte Lichtarme miteinander verbunden. Der Anblick erinnerte mich an die Worte, die sich meinem Gedächtnis so tief
eingeprägt hatten – sie waren in den Baum geschnitzt, der Rhias Zuhause war:
Das große und herrliche Lied der Sterne
.
Rhia schaute unverwandt zum Himmel hinauf, ihre Locken glänzten im Sternenlicht. »Du hast also nicht schlafen können? Ich
auch nicht.«
»Aber du hast die Nacht besser genutzt. Ich habe mich nur auf den Tannennadeln herumgewälzt.«
»Schau mal dort!«, rief sie und deutete auf eine Sternschnuppe, die einen Augenblick hell aufleuchtete und dann rasch verschwand.
»Ich habe mich oft gefragt«, sagte Rhia nachdenklich, »ob so ein Stern irgendwo in unserer Welt niederfällt oder in einer
anderen.«
»Oder in einen Fluss dahinter«, sagte ich. »In einen großen runden Fluss, der das Licht aller Sterne trägt und endlos in sich
selbst fließt.«
»Ja«, flüsterte sie. »Und vielleicht ist dieser Fluss auch die Naht zwischen den beiden Hälften der Zeit. Erinnerst du dich
an diese Geschichte? Eine Hälfte beginnt immerzu, die andere Hälfte endet unentwegt.«
Ich stützte die Ellbogen auf den Stein und lehnte mich weiter zurück. »Wie könnte ich das vergessen? Du hast es mir in derselben
Nacht erzählt, in der du mir gezeigt hast, wie man die Sternbilder nicht in den Sternen findet, sondern im Raum dazwischen.«
»Und du hast mir von diesem Pferd erzählt – wie hieß es noch?«
»Pegasus.«
»Pegasus! Ein geflügeltes Ross, das von Stern zu Stern tänzelt. Mit dir auf dem Rücken.« Sie lachte, es klang wie eine Glocke
im Wald. »Wie gern würde ich so fliegen!«
Ich lachte. »Das erinnert mich daran, wie aufregend es war, zum ersten Mal zu reiten – dieses Gefühl der Freiheit!«
»Wirklich?« Zum ersten Mal, seit ich gekommen war, wandte sie den Blick vom funkelnden Himmel. »Wann bist du geritten?«
»Vor langer Zeit. Es ist so lange her! Auf einem großen schwarzen Hengst, er gehörte unserem … Vater.« Den Rest sagte ich nicht: bevor Rhita Gawr ihn korrumpierte und ihn mit der Gier ansteckte, Fincayra zu beherrschen.
Diese Worte hinterließen immer noch einen schlechten Geschmack in meinem Mund. »Ich weiß nicht mehr viel über dieses Pferd,
nur dass ich es so gern ritt – natürlich mit
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