Merlin und die sieben Schritte zur Weisheit
Rückkehr sterben sollte, war das alles es mir wert, dich wieder zu sehen.«
Ich wandte mich ab.
»Und noch etwas, mein Sohn. Ich habe in meinem Leben sehr wenig gelernt, aber das weiß ich: Wir alle – auch ich – haben in
uns sowohl die Gemeinheit einer Schlange wie die Sanftmut einer Taube.«
Ich strich mir die Haare aus der Stirn. »Ich habe eine Schlange in mir, das ist sicher. Aber von dir werde ich das nie glauben.
Nie.«
Sie seufzte schwer, ihr Blick wanderte über die verflochtenen Zweige, die den Raum umgaben. »Lass es mich anders sagen. Du
hast so gern meine Geschichtenüber die alten Griechen gehört. Erinnerst du dich an die über das Mädchen Psyche?«
Verwirrt nickte ich.
Wieder schien ihr Blick mich zu durchbohren. »Nun, das griechische Wort
psyche
hat zwei Bedeutungen. Manchmal heißt es Schmetterling. Und manchmal heißt es Seele.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Der Schmetterling ist der Meister der Verwandlung, weißt du. Er kann sich aus einem Wurm in das herrlichste Geschöpf von
allen verwandeln. Und die Seele, mein Sohn, kann das Gleiche.«
Ich schluckte. »Es tut mir Leid, Mutter.«
»Es soll dir nicht Leid tun, mein Sohn. Ich liebe dich. Ich liebe euch alle.«
Ich beugte mich nieder und küsste ihre heiße Stirn. Sie lächelte mir erschöpft zu, dann drehte sie den Kopf zu Rhia. »Und
für dich, mein Kind, habe ich das.« Aus der Tasche ihres tiefblauen Gewands zog sie ein Amulett aus Zweigen, die mit einem
roten Faden zusammengebunden waren. »Ein Amulett aus Eiche, Esche und Weißdorn. Nimm es. Siehst du, wie die Knospen mit neuem
Leben schwellen? Sie sind bereit zu blühen, genau wie du. Trag es bei dir, es gibt dir Mut. Und erinnert dich daran, deinen
Instinkten zu vertrauen. Hör auf sie. Denn sie sind die Stimme der Natur, unser aller Mutter.«
Rhias Augen leuchteten, als sie das Geschenk nahm und es geschickt an ihrem Hemd aus gewobenen Ranken befestigte. »Ich werde
auf sie hören. Das verspreche ich.«
»Du tust es bereits, glaube ich.«
»Das stimmt«, sagte ich. »Man weiß von ihr sogar, dass sie andere mahnt auf Beeren zu vertrauen.«
Rhia errötete, während sie das Amulett aus Eiche, Esche und Weißdorn befühlte.
»Natürlich«, murmelte Bumbelwy, »hast du für mich nichts.«
Ich schaute ihn böse an. »Warum sollte sie?«
»Oh doch«, sagte Elen matt. »Ich habe einen Wunsch.«
»Einen Wunsch?« Die schlaksige Gestalt kam näher und kniete sich auf den Boden aus Zweigen. »Für mich?«
»Ich wünsche dir, dass du eines Tages jemanden zum Lachen bringst.«
Bumbelwy neigte den Kopf. »Danke, gnädige Frau.«
»Merlin«, flüsterte meine Mutter, »vielleicht sind deine sieben Schritte wie die sieben Arbeiten des Herkules. Erinnerst du
dich daran? Sie galten als undurchführbar. Doch er hat sie alle erledigt und überlebt.«
Ich nickte zwar, aber ich war nicht ermutigt. Denn die schwierigste Arbeit des Herkules war, eine Zeit lang die ganze Welt
auf seinen Schultern zu tragen. Und das Gewicht, das ich jetzt trug, kam mir nicht geringer vor.
TEIL ZWEI
XII
TUATHA
D ie rindenumrandete Tür öffnete sich knarrend und ich trat aus Arbassa heraus. Doch bevor ich die dunkle Treppe verließ, atmete
ich noch einmal den feuchten Duft der Innenwände ein – und warf einen letzten Blick auf die Runen, die Tuatha vor so langer
Zeit eingeschnitzt hatte. Ich las wieder die warnenden Worte, die mich mehr beschäftigt hatten als alles andere:
Aus Teilen bildet das Ganze sich;
Kein Schritt ist zu überspringen.
Und nur wer die Seele der Strophe begreift,
Dem kann das Wagnis gelingen.
Was konnte das bedeuten,
die Seele der Strophe
? Die sieben Schritte würden schon schwierig genug zu verstehen sein, aber die Seele jeder Strophe zu begreifen erschien mir
ganz unmöglich. Ich hatte nicht die geringste Idee, wo ich anfangen sollte.
Rhia kam durch die offene Tür. Ihre braunen Locken schimmerten in einem Lichtstrahl, der durch Arbassas Zweige fiel. Sie bückte
sich und streichelte sanft eine Wurzel des großen Baums. Als sie sich aufrichtete, trafen sich unsere Blicke.
»Bist du sicher, dass du mitkommen willst?«, fragte ich. Sie nickte und gab der Wurzel einen letzten Klaps. »Eswird nicht leicht sein, das ist klar. Aber wir müssen es versuchen.«
Ich hörte Bumbelwys scheppernde Glocken die Treppe herunterkommen und schüttelte den Kopf. »Und mit ihm wird es noch schwieriger.«
Rhia wandte den Kopf zur Tür. »Ich
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