Merlin und die sieben Schritte zur Weisheit
Halmen. Obwohl der Vogel kräftig zog, gab
das Gras nicht nach. »Schau mal!« Cwen ging einen kleinen Schritt näher. So sanft wie möglich fragte sie: »Würdessst du mich
versssuchen lasssen dir beim Nessstbau zu helfen, guter Vogel?«
Die Dreizehenmöwe kreischte und schlug wütend mit den Flügeln nach ihr. Erst nach einigem Gezeter beruhigte sie sich und kehrte
zu ihrer Arbeit zurück, wobei sie Cwen aus einem Auge argwöhnisch beobachtete.
Traurig wandte sich der Bäumling wieder an Rhia. »Sssiehssst du? Dasss issst meine Ssstrafe.«
»Du verdienst sie ganz und gar.«
»Ich bin unglücklich, ssso unglücklich! Ich dachte, esss könnte nicht schlimmer werden. Dann bissst du plötzlich aufgetaucht.«
Sie deutete mit einem knotigen Finger auf Bumbelwy. »Mit diessser . . . Ssstimme der Verdammnisss.«
Der Spaßmacher hob hoffnungsvoll den Kopf. »Vielleicht magst du Rätsel lieber? Ich kenne ein fantastisches über Glocken.«
»Nein!«, schrie der Bäumling. »Bitte, Rhia. Ich bin voller Reue. Willssst du mir nicht verzeihen?«
Rhia verschränkte die laubbedeckten Arme. »Niemals.«
Ich spürte einen seltsamen Schmerz. Das Wort
niemals
dröhnte mir in den Ohren wie eine schwere Tür, die zugeschlagen und versperrt wird. Zu meiner Überraschung empfand ich Sympathie
mit dem Bäumling. Sicher hatte Cwen etwas Schreckliches getan. Etwas, das sie bereute. Aber hatte ich nicht auch Dinge getan,
die ich tief bereute?
Ich trat zu Rhia und sagte leise: »Es ist schlimm, ich weiß. Trotzdem solltest du ihr vielleicht vergeben.«
Sie sah mich kalt an. »Wie kann ich das?«
»So wie meine Mutter mir vergeben hat, was ich ihr angetan habe.« Elens Abschiedsworte fielen mir ein.
Der Schmetterling kann sich aus einem Wurm in das herrlichste Geschöpf von allen verwandeln. Und die Seele, mein Sohn, kann
das Gleiche.
Ich biss mir auf die Unterlippe. »Cwen hat etwas Scheußliches getan, das steht fest. Aber sie verdient noch eine Chance, Rhia.«
»Warum?«
»Weil sie sich, nun ja, ändern kann.
Wir alle, alle Lebewesen haben die Fähigkeit, uns zu ändern.«
Plötzlich blitzte mein Stock in hellem blauem Licht. Das Holz knisterte, als würde es brennen. Den Bruchteil einer Sekunde
später waren das Licht und das Geräusch verschwunden. Als ich den Stock in der Hand drehte, stellte ich ein Zeichen fest,
so blau wie der Himmel in der Dämmerung, das ins Holz geritzt war. Es war ein Schmetterling. In diesem Moment wusste ich,
dass Tuathas Geist immer noch meinen Stock berührte. Und dass ich die Seele des Veränderns entdeckt hatte.
Zögernd streckte Rhia dem Bäumling die Hand entgegen. Cwen nahm sie mit leuchtenden Augen in die ihre. Einen Augenblick lang
schauten sie sich schweigend an.
Schließlich wandte sich der Bäumling an mich. »Wie kann ich dir danken?«
»Euch beide so zu sehen ist Dank genug.«
»Bissst du sssicher, dasss ich nichtsss für dich tun kann?«
»Nur wenn du dich auf die Kunst des Springens verstehst«, antwortete ich. »Wir müssen jetzt zum See des Gesichts weit im Norden.«
»Eine zehntägige Wanderung«, stöhnte Bumbelwy. »Nein, es sind eher zwölf. Nein, sagen wir vierzehn Tage.«
Cwens Tränenaugen sahen mich forschend an. »Die Kunssst desss Springensss kenne ich nicht, aber die Kunssst desss Verändernsss
könnte dir nützlich sssein.«
Rhia stockte der Atem. »Oh Cwen, wenn wir nur schwimmen könnten wie die Fische . . .«
»Dann würdet ihr mehrere Tage gewinnen.«
Ich sprang auf. »Ist das wirklich möglich?«
Ein schiefes Lächeln zeigte sich auf Cwens Gesicht, während sie mit ihren knochigen Fingern auf Bumbelwy zeigte. »Du, Ssstimme
der Verdammnisss, gehssst zuerssst.«
»Nein«, bat er und wich zurück. »Das machst du nicht. Das kannst du nicht.«
»
Flippna ssslippna, hahnaway ssswisch«,
sang Cwen.
»Kelpono bubblim tubblim fisch.«
Plötzlich blieb Bumbelwy stehen, er merkte, dass er bis fast zum Rande der Klippe zurückgewichen war. Er schaute hinunter
in die donnernde Brandung, seine Augen waren vor Angst geweitet, seine Ärmel flatterten im Wind. Er schaute zurück auf Cwen
und seine Augen wurden noch größer.
»B-bitte«, stotterte er. »Ich
hasse
Fische. So schleimig, so f-furchtbar nass am ganzen Leib! S-so . . .«
Krach.
Ein hässlicher Fisch mit riesigen Augen und vierfachem Kinn unter dem grämlich herabgezogenen Mund zappelte hilflos auf dem
Gras, bevor er endlich über die Klippe sprang. Trotzdem fiel es mir
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