Merlin und die sieben Schritte zur Weisheit
davonschoss, wäre ich doch bestimmt gefangen worden, wenn nicht plötzlich ein noch größeres Geschöpf aufgetaucht
wäre und meinen Verfolger verjagt hätte. Ich konnte meinen Helfer nur kurzsehen, aber mir war, als hätte er einen Fischschwanz und den Oberkörper eines Mannes gehabt.
Sechs Tage und fünf Nächte schwammen wir unentwegt nach Norden. Oft tanzte nach Einbruch der Dunkelheit das bleiche Licht
eines zunehmenden Halbmonds über den Wellen. Doch die Schönheit des Mondes entging mir. Ich sah in seinem Gesicht nur das
Antlitz einer anderen, die ich für immer zu verlieren fürchtete. Es blieben weniger als drei Wochen.
Endlich kam der Moment, in dem Rhia scharf zur Küste schwenkte. Sie führte uns zu einem kleinen Delta, wo sich ein Süßwasserfluss
ins Meer ergoss. Ich konnte die Reinheit geschmolzenen Schnees, die Ausgelassenheit von Ottern und die unerschütterliche Geduld
alter Fichtenbäume schmecken, gemischt mit den salzigen Aromen weiter Gewässer. Wir schwammen den Fluss hinauf, so weit wir
konnten. Dann konzentrierte ich mich und wiederholte den Befehl, den ich von Cwen gelernt hatte.
Plötzlich stand ich knietief in einem wirbelnden Wasserfall, mit einer Hand hielt ich meinen Stock umklammert, mit der anderen
Rhias Arm. Weiter unten warf sich Bumbelwy hustend und spuckend ans sumpfige Ufer. Er hatte offenbar vergessen, dass Menschen
mit dem Kopf unter Wasser nicht besonders gut atmen können.
Während Bumbelwy sich erholte, schüttelten Rhia und ich uns das Wasser aus Kleidern und Haaren. Sie erklärte inzwischen, dass
dieser Fluss ihrer Meinung nach direkt vom See des Gesichts käme. Bald wanderten wir zu dritt am steinigen Ufer bergan. Ein
dichter Erlen- und Birkenwald am Rand des Wasserlaufs machte den Aufstieg schwierig. Immer wenn Bumbelwy versuchte die Zweigeabzuschütteln, die an seinem Umhang rissen, gaben seine Glocken ein verstopftes Rasseln von sich.
Einmal blieb ich keuchend von der Kletterei stehen. Ich sah einen Pilz mit zottigem Hut zwischen den Wurzeln einer Birke und
zog ihn aus der Erde. »So seltsam es klingt«, sagte ich, während ich hineinbiss, »diese kleinen weißen Würmer werden mir fehlen.«
Rhia wischte sich die Stirn und grinste. Sie pflückte sich ebenfalls einen Pilz. »Vielleicht findest du mehr Würmer am See
des Gesichts.«
»Weißt du, wie er zu diesem Namen kam?«
Sie kaute nachdenklich. »Manche sagen, er hat mit seiner Form zu tun, die ein wenig einem Männergesicht gleicht. Andere sagen,
er kommt von der Macht des Wassers.«
»Welcher Macht?«
»Wenn du hineinschaust, erfährst du nach der Legende eine wichtige Wahrheit über dein Leben. Auch wenn es eine Wahrheit ist,
die du lieber nicht wissen möchtest.«
XVII
VERBINDEN
W ir folgten dem steinigen Ufer weiter durch die Erlen bergan. Obwohl wir über Wurzeln stolperten, obwohl Dornen an unserer
Kleidung rissen und uns die Schienbeine zerkratzten, behielten wir unser Tempo bei. Mehrere Stunden später kamen wir in ein
liebliches Tal zwischen steilen bewaldeten Hügeln. Würziger Kiefernduft umwehte uns. Zwischen den Bäumen leuchtete weißer
Quarz in der Spätnachmittagssonne.
Doch das Tal wirkte gespenstisch still. Keine Vögel sangen, keine Eichhörnchen plapperten, keine Bienen summten. Ich horchte
aufmerksam in der Hoffnung, das Lebenszeichen irgendeines Geschöpfs zu hören. Rhia las meine Gedanken und nickte wissend.
»Tiere und Vögel bleiben diesem Tal fern. Niemand weiß, warum.«
»Sie sind klüger als manche Leute«, sagte Bumbelwy; von seinen Glocken tropfte immer noch Wasser.
Ich schaute Rhia nach, die zum Ufer des Sees mitten im Tal ging. Der See mit dem fast schwarzen Wasser war so ruhig, dass
kaum ein Kräuseln seine Oberfläche durchbrach. Seine Umrisse glichen aus diesem Blickwinkel dem Profil eines Mannes, dessen
kräftiges Kinn trotzig vorsprang – wie bei meinem Vater. Bei der Erinnerung an ihn richtete ich mich steif auf. Ich wünschte,
er wäre in Wirklichkeit so stark gewesen, wie er aussah. Stark genug, umsich Rhita Gawr entgegenzustellen, als er die Möglichkeit dazu gesehen hatte. Stark genug, um seiner Frau Elen zu helfen,
als sie ihn gebraucht hatte.
Ein Schrei riss mich aus meinen Gedanken.
Rhia stand am Rande des Sees und schaute ins dunkle Wasser. Sie hielt schützend die Hände vor sich, ihr Rücken war vor Angst
gekrümmt. Doch wenn etwas im See sie geängstigt hatte, so machte sie keine Anstrengung, sich
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