Merlin - Wie alles begann
Treppe hinunterging, folgte ich ihr, aber nur zögernd. Denn in mir wuchs das Gefühl, dass meine
eigene Suche mich zu einem anderen Ort, in andere Teile Fincayras führen musste, vielleicht noch weiter. Jedenfalls weit weg
von der Druma. Und selbst wenn ich eine Zeit lang hier bliebe, wie könnte ich Rhia helfen ohne in Versuchung zu geraten, mich
auf meine verbotenen Kräfte zu verlassen? Ich schüttelte den Kopf und war überzeugt, dass unsere neue Freundschaft bereits
gescheitert war.
Über die Schulter schaute ich zu Cwen. Sie zeigte keine Regung über meinen Weggang – mit einer Ausnahme. Ihre Tränentropfenaugen
starrten Verdruss an und machten klar, dass sie froh war den reizbaren Vogel loszuwerden.Wie zur Antwort hob er ein Bein und schlug mit den Krallen wild in ihre Richtung.
Auf der Treppe roch ich den vertrauten feuchten Duft und mir kamen Zweifel, ob ich jemals wieder hier in diesem großen Baum
stehen würde. Ich hielt inne und betrachtete die merkwürdige Schrift an Arbassas Wänden.
Rhia rief von unten herauf: »Komm schon.«
»Ich schaue mir nur zum letzten Mal diese Schrift an.«
Selbst im schwachen Licht der Treppe sah ich ihr Erstaunen. »Schrift? Welche Schrift?«
»An der Wand hier. Siehst du sie nicht?«
Sie kam zurück. Nachdem sie auf den Punkt gestarrt hatte, auf den ich deutete, wirkte sie verblüfft, offenbar sah sie nichts.
»Kannst du sie lesen?«
»Nein.«
»Aber du kannst sie sehen?«
»Ja.«
Einen Moment betrachtete sie mich prüfend. »Du siehst auf andere Art, stimmt’s?«
Ich nickte.
»Du siehst ohne deine Augen.«
Wieder nickte ich.
»Und du kannst etwas sehen, was ich
mit
Augen nicht sehen kann.« Rhia biss sich auf die Lippe. »Du bist mir jetzt noch fremder als bei unserer ersten Begegnung.«
»Vielleicht ist es besser für dich, wenn ich ein Fremder bleibe.«
Verdruss flatterte nervös mit den Flügeln.
»Ihm gefällt es hier drinnen nicht«, sagte sie und ging voraus die Treppe hinunter.
Ich folgte ihr. »Er weiß vielleicht, was Arbassa von ihm hält.« Nach einer Pause setzte ich hinzu: »Ganz zu schweigen davon,
was ich von ihm halte.«
Die Tür knarrte, dann öffnete sie sich. Wir traten hinaus ins Morgenlicht, das durch die belaubten Äste drang, während der
Eingang hinter uns zufiel.
Rhia schaute hinauf in die breite Krone Arbassas, dann ging sie rasch in den Wald. Als ich ihr folgte, wurde Verdruss von
meinen schnellen Schritten durchgeschüttelt und kniff mich mit seinen Krallen mehr denn je.
Unter einer großen Buche, deren graue Rinde vom Alter gefaltet war, blieb Rhia stehen. »Komm her. Ich will dir etwas zeigen.«
Als ich näher kam, legte sie ihre Hand flach an den Stamm.
»Kein Baum ist so zum Sprechen bereit wie die Buche, besonders eine ältere. Hör zu.«
Sie schaute hinauf in die Äste und gab einen langsamen, zischenden Ton von sich. Sofort winkten die Äste als Antwort und flüsterten
leise. Als Rhia Tempo, Tonhöhe und Stimmumfang veränderte, schien der Baum entsprechend zu antworten. Bald waren das Mädchen
und der Baum in ein lebhaftes Gespräch vertieft.
Nach einiger Zeit sagte Rhia in unserer Sprache zu mir: »Versuch du es jetzt.«
»Ich?«
»Ja. Leg zuerst die Hand an den Stamm.«
Zögernd gehorchte ich.
»Jetzt höre, bevor du sprichst.«
»Ich habe die Äste schon gehört.«
»Hör nicht mit den Ohren. Hör mit deiner
Hand
.«
Ich drückte die Hand in die Falten des Stamms; meine Finger vereinigten sich mit der kalten, glatten Rinde. Plötzlich fühlte
ich ein leichtes Pulsieren an den Fingerspitzen, das allmählich in meine ganze Hand und dann den Arm hinaufwanderte. Ich konnte
fast spüren, wie der leichte Rhythmus von Luft und Erde durch den Körper des Baums floss, ein Rhythmus, der die Kraft einer
Ozeanwelle mit der Zartheit eines Kinderatems verband.
Ohne nachzudenken gab ich einen zischenden Laut von mir wie Rhia. Zu meiner Überraschung antworteten die Zweige, anmutig wogten
sie über mir. Ein Flüstern drang durch die Luft. Ich lächelte fast, als ich erkannte, wie der Baum tatsächlich mit mir sprach,
auch wenn ich die Worte nicht verstand.
Zu Rhia und der alten Buche zugleich sagte ich: »Eines Tages würde ich gern diese Sprache lernen.«
»Sie würde dir nichts helfen, wenn die Druma stirbt. Nur hier sind die Bäume von Fincayra noch so wach, dass sie reden.«
Ich zog die Schultern hoch. »Was könnte ich schon für dich tun? Ich habe dir schon gesagt, ich
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