Messewalzer
gar nicht wahrzunehmen. Er starrte in die Tiefe.
Kroll fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut. Er hätte alles dafür gegeben, jetzt einen erfahrenen Polizeipsychologen bei sich zu haben. Aber es war keiner da. Kroll fühlte sich überfordert. Mit einer derartigen Situation hatte er überhaupt keine Erfahrung. Was sollte er jetzt sagen? Bloß nicht das Falsche. Das war klar. Aber was war das Richtige? Er durfte Gutbrot auf keinen Fall erzählen, dass sein Alibi erneut geplatzt war. Das würde seine Ausweglosigkeit nur erhöhen. Aber irgendetwas musste er doch tun.
»Herr Gutbrot! Nichts auf dieser Welt kann so schlimm sein, dass es sich lohnen würde, da runterzuspringen.«
Der Verleger sah immer noch in die Tiefe. »Sie haben ja keine Ahnung!«
Kroll trat einen Schritt näher. »Natürlich habe ich keine Ahnung, aber ich weiß, dass es in jeder Situation Menschen gibt, die einem helfen können. Und ich weiß auch, dass das, was Sie vorhaben, keine Lösung ist. Denken Sie doch an Ihre Frau und Ihre Kinder!«
In der Ferne ertönte ein Martinshorn Die Feuerwehr rückte an. Unablässig starrte Gutbrot an seinen Füßen vorbei in Richtung Boden.
Kroll sah zu Wiggins. Der zuckte hilflos mit den Achseln.
»Herr Gutbrot. Kommen Sie jetzt bitte da runter! Wenn das etwas mit dem Tod von Willi Lachmann zu tun haben sollte, besteht mit Sicherheit kein Anlass, sich das Leben zu nehmen. Wir glauben nicht, dass Sie etwas mit dessen Tod zu tun haben.«
»Das weiß ich selbst«, murmelte Gutbrot mit monotoner Stimme.
Ratlos musterte Kroll den Geschäftsinhaber des Zeitraub-Verlages. »Aber was ist es denn dann?«
»Ich glaube nicht, dass das irgendjemanden etwas angeht«, waren die letzten Worte des Verlegers Elmar Gutbrot.
Das dumpfe Geräusch des Aufpralls war noch oben auf der Plattform zu hören. Die beiden Polizisten stürmten zur Brüstung. Gutbrots verdrehter Körper lag in einer Blutlache. Rettungssanitäter rannten auf ihn zu.
Langsam ließ sich Kroll zu Boden sinken und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Verdammte Scheiße! Musste das jetzt sein?«
Wiggins setzte sich neben seinen Kollegen. »War das jetzt ein Schuldeingeständnis?«
Erschöpft fuhr sich Kroll durch die Haare. »Keine Ahnung. Vielleicht ja, vielleicht nein.« Er sah Wiggins an. »Irgendjemand muss die Angehörigen benachrichtigen. Weißt du, wo der Gutbrot gewohnt hat?«
Wiggins blätterte in seinem Notizblock. »Der wohnt in Polling, einem kleinen Ort in der Nähe von Altötting.«
»Ruf die Kollegen im Präsidium an. Die sollen jemanden vorbeischicken, der die traurige Nachricht überbringt.«
Kroll stand auf und schaute über die Brüstung. Er beobachtete, wie ein Zinksarg in einen Leichenwagen geschoben wurde. Die Blutlache war noch deutlich zu sehen. »Ich glaube, heute brauche ich ein Bier!«
»Ich komm mit«, antwortete Wiggins.
Die Kommissare beschlossen, zunächst ins Präsidium zu fahren. Dort wurde ihnen mitgeteilt, dass Carola Gutbrot noch am heutigen Abend in Leipzig eintreffen würde. Ihr Zug wurde für 20.25 Uhr am Hauptbahnhof angekündigt. Kroll und Wiggins beschlossen, sie abzuholen.
Kroll rief alle Mitarbeiter der SOKO zusammen, um zu erfahren, ob sie etwas Brauchbares herausgefunden hatten. Die Ergebnisse waren jedoch wieder dürftig. Oskar Jäger hatte sich noch nicht gemeldet. Das war aber auch nicht zu erwarten, weil er sich erst seit wenigen Stunden in Berlin aufhielt.
Am Ende der Sitzung erhielten sie die Nachricht, dass vor einem Haus in der Härtelstraße ein Fahrrad entdeckt worden sei, das mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem Fahrrad auf der Videoaufzeichnung übereinstimme. Die Härtelstraße war nur wenige Meter von der Pfeifenstube entfernt. Kroll bat die Kollegen, nichts anzurühren. Sie wollten sich das Rad zunächst selbst ansehen, zumal die Härtelstraße auch vom Polizeipräsidium aus innerhalb von nur fünf Minuten Fußweg erreichbar war.
Das rote Mountainbike lehnte an der Wand eines alten Mehrfamilienhauses. Es war mit einem schwarzen Rundschloss an einem Fenstergitter angekettet. Ein uniformierter Beamter ging auf Kroll zu. »Das Rad ist registriert. Wir haben den Eigentümer schon abgeklärt. Es gehört einer gewissen Irma Finger.«
»Das ist die Autorin, die am Tatabend die Lesung im Auerbachs Keller gehalten hat«, erläuterte Wiggins. »Vermutlich hat Gutbrot das Fahrrad von ihr geliehen.«
Kroll wies mit dem Zeigefinger auf den Lenker. »Wir hatten früher einen
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