Messewalzer
Liane ausloten wollte, ob sie für ihn nach diesem Eingriff noch attraktiv war. Genau das irritierte ihn. Er hatte bislang nicht ein einziges Mal signalisiert, dass er an einer Beziehung mit ihr interessiert war. Er selbst hatte die Trennung von Claudia noch nicht verarbeitet und was ging denn überhaupt in Liane vor? Sie hatte erst vor wenigen Tagen ihren Lebensgefährten durch einen Mordanschlag verloren. Warum zeigte sie jetzt so ein unverblümtes Interesse für seine Person? Er war alles andere als ein Psychologe, aber war ein solches Verhalten normal? Er überlegte, ob es nicht doch ein Fehler war, die Einladung zum Abendessen angenommen zu haben. Auf jeden Fall ging ihm alles zu schnell.
»Also … ich habe damit wirklich keine Erfahrung. Ich denke, du solltest einfach das tun, was du für richtig hältst! Entscheidend ist allein, ob du dich wohlfühlst.«
Liane nickte und schien in der nächsten Sekunde Krolls Verlegenheit zu bemerken. »Oh Gott, Kroll! Ich bin wirklich ein Vollidiot. Du musst jetzt natürlich denken, dass ich dich hemmungslos anbaggere!«
»Nein, das habe ich jetzt nicht so gesehen«, log Kroll.
Liane schaute in ihr Glas, das sie mit langsamen Bewegungen auf dem Tisch kreisen ließ. »Weißt du, alle denken immer, ich sei so super beliebt, ich würde mich nur auf VIP-Partys herumtreiben und das Leben sei auch sonst nur die wahre Freude.« Sie sah Kroll in die Augen. »Ich bin verdammt einsam, Kroll. Ich habe nicht viele richtige Freunde. Und erst recht nicht in Leipzig.« Sie lächelte freudlos. »Das kannst du jetzt glauben oder nicht. Aber … obwohl wir uns noch nicht lange kennen, habe ich das Gefühl, dass du ein richtiger Kumpel bist. Du bist ehrlich, direkt … und ich glaube einfach, dass ich dir vertrauen kann.«
»Jetzt übertreib mal nicht«, wiegelte Kroll ab.
»Ich habe eine ziemlich gute Menschenkenntnis«, erwiderte Liane. »Ich bin froh, wenn du in meiner Nähe bist. Ich weiß nicht, warum, kann das nicht näher erklären. Aber ich fühle mich in deinem Beisein einfach wohl. Und deine Meinung ist mir wichtig.« Sie machte eine Pause. »Das ist für mich eine wichtige Entscheidung. Und ich habe doch niemanden, den ich sonst fragen kann.«
SECHS
Kroll kam gegen halb eins in seine Wohnung zurück. Er zog sich sofort aus, ging ins Badezimmer und anschließend direkt ins Bett. Den Wecker stellte er auf sieben Uhr. Er schlief sofort ein.
Das Klingeln seines Handys konnte er nicht hören, als er am nächsten Morgen gegen halb acht unter der Dusche stand. Wiggins ahnte das schon und legte nicht auf. Erst als Kroll das Wasser abgedreht hatte, nahm er das Handy wahr. Er trocknete sich nur die Hände ab und drückte auf die grüne Taste.
Wiggins war in heller Aufregung. »Komm sofort zu Liane Mühlenbergs Wohnung. Beeil dich! Es ist dringend!«
»Ist etwas passiert?«»Das kann mal wohl sagen. Liane ist entführt worden!«
»Entführt worden?«, wiederholte Kroll, weil er nicht glauben konnte, was sein Kollege ihm gerade erzählt hatte.
»Beeil dich! Ich erkläre dir alles, wenn du hier bist!«
Der Bereich des Hauseingangs in der Ferdinand-Lassalle-Straße war großzügig mit dem rot-weißen Absperrband der Polizei abgeriegelt. Davor hatten sich einige Schaulustige versammelt. Kroll sah, dass die Mitarbeiter der Spurensicherung schon im Treppenhaus ihre Arbeit verrichteten.
Wiggins kam Kroll auf halber Treppe entgegen. »Ein Nachbar hat uns alarmiert.«
»Kannst du mir endlich sagen, was passiert ist?«, fragte Kroll ungeduldig.
»Komm mit«, befahl Wiggins.
Er ging mit Kroll in die Wohnung im ersten Obergeschoss. Die Tür stand offen. Wiggins führte Kroll zielstrebig ins Wohnzimmer, wo ein Rentner auf ihn zu warten schien. Der Mann saß in einem Sessel, er war klein und untersetzt. Er trug einen Anzug, der an seinem Körper ein wenig steif wirkte, und hatte die Hände auf einen schwarzen Stock gestützt.
»Das ist Herr Badstuber«, erläuterte Wiggins. »Herr Badstuber, wären Sie bitte so freundlich und würden meinem Kollegen Kroll noch einmal erklären, was Sie heute gesehen haben.«
Der alte Mann räusperte sich. Er vergewisserte sich bei Wiggins mit einem Blickkontakt.
»Bitte!«, forderte Wiggins ihn auf.
»Also … ich gehe so jeden Morgen gegen sieben Uhr zum Bäcker und hole mir Brötchen und die Tageszeitung. Früher, als meine Frau noch lebte, hat sie das immer gemacht, aber das ist jetzt auch schon seit über fünf Jahren vorbei.« Er richtete sich
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