Messias-Maschine: Roman (German Edition)
ich mich wieder zurücksinken ließ und in Gedanken durch die verworrenen Straßen einer Stadt wandelte, die zum Teil Illyria City und zum Teil Ioannina war. Dann sprach sie plötzlich wieder.
»Ich lese jetzt«, sagte sie ausdruckslos.
»Was tust du?«
»Ich lese jetzt«, wiederholte sie, stand auf und setzte sich auf einen Stuhl in der Ecke.
Ich hatte ihr ein bisschen was zum Lesen mitgebracht – wissenschaftliche Einführungswerke und dergleichen –, und sie hatte heute schon in eines reingeschaut. Jetzt nahm sie es zur Hand und begann, sich methodisch durch die Seiten zu arbeiten. Sie brauchte kein Licht. Ihre Augen waren anders beschaffen als die von Menschen.
Tja, warum auch nicht?, dachte ich. Sie muss nicht schlafen. Warum soll sie die Nacht also nicht zum Lesen nutzen?
Also entspannte ich mich, tauchte wieder in die fremde und doch so vertraute Stadt ein und versank in tiefstem Schlaf.
Ein paar Stunden später wachte ich auf, weil meine Blase drückte. Neben mir war das Bett noch immer leer. Von der anderen Seite des Zimmers war in der Dunkelheit ein Umblättern zu hören.
Es hatte etwas Unheimliches.
Doch ich war noch im Halbschlaf. Mein Unbehagen legte sich schnell.
Ich pinkelte in einen Nachttopf, ging wieder ins Bett und schlief sofort ein.
Kapitel 42
A m nächsten Morgen beim Frühstück eilte unser Vermieter, der übers ganze Gesicht strahlte, mit einer großen blonden Frau um die fünfzig im Schlepptau herein. Ich trank gerade Kaffee. Lucy trank ein Zitronengetränk, das nach meinen Anweisungen zubereitet worden war. Niemand sonst hielt sich in dem kleinen Speisesaal auf, mit Ausnahme eines Vertreters in den mittleren Jahren, der Zeitung las.
(Ich weiß noch, dass die Titelschlagzeile lautete: »DAS HEILIGE KONSTANTINOPEL IST UNSER!« Ziemlich dumme Stimmungsmache, dachte ich. Griechenland war ein Flickenteppich aus kleinen Staaten, die in jeder Hinsicht unabhängig voneinander waren, während Istanbul das Zentrum eines mächtigen islamischen Reiches darstellte.)
»Das sind sie!«, rief der kleine Hotelier. »Das sind sie!«
»Hallo!«, flötete die große blonde Frau auf Englisch. »Takis meinte, dass ihr hier seid, und ich musste einfach vorbeikommen, um euch kennenzulernen, bevor ihr abreist. Es ist so lange her, seit ich jemanden aus England getroffen habe – oder überhaupt jemanden, der Englisch spricht!«
Ich begrüßte sie steif, doch nicht ich war derjenige, mit dem sie sprechen wollte.
»Lucy, nicht wahr?«, fragte sie strahlend, während sie sich auf den freien Stuhl an unserem Tisch setzte. »Ich heiße Stacey. Vor dreißig Jahren bin ich in den Ferien nach Korfu gefahren und habe mich in einen hübschen Kellner verliebt. Ganz schön klischeehaft, was? Natürlich ist Spiro inzwischen ein dicker alter Spießer. Und nach Korfu will heutzutage auch niemand mehr. Nicht seit, du weißt schon, seit die Leute hier religiöser sind … und zu Hause ja auch, obwohl es da natürlich eine andere Religion ist … Manchmal ist es ein bisschen einsam.«
Sie seufzte.
»Spiro und ich sind vor ein paar Jahren nach Korfu zurückgekehrt. Die Feriensiedlungen sind zu wahren Geisterstädten geworden. Ruinen. Und all die albernen englischen Pub-Namen: das Pig and Whistle, das Dog and Duck. Alles verfällt dort. Genau wie die richtigen Pubs in England wahrscheinlich.«
Die Engländerin fasste sich wieder.
»Nun ja, was soll’s. Wahrscheinlich wohnst du mit deinem Mann in der Poli, oder?«, fuhr sie fort (ohne darüber nachzudenken, benutzte sie das griechische Wort für Stadt, wenn sie Illyrien meinte). »Vielleicht sieht die Sache für dich ja anders aus. Ich selbst war nie dort. Manchmal sage ich zu Spiro, dass wir hinfahren und es uns mal ansehen sollten. Ich würde gerne wieder Leute Englisch sprechen hören, obwohl es nicht das Gleiche wäre, wie nach Hause zu kommen. Aber das kommt für ihn ohnehin nicht in Frage. Er will nicht mal darüber reden. Die Leute hier halten nicht viel von der Poli, wisst ihr, weil man dort gegen Religion ist und so. Leben und leben lassen, das sage ich immer. Aber das ist derzeit nicht gerade in Mode, hab ich recht? Nein, sie halten ganz und gar nichts davon, in die Poli zu fahren. Es sei denn, man ist dort, um Geld zu machen …«
Sie hatte so viel, das herausmusste, dass sie eine ganze Weile lang ohne Punkt und Komma redete. Doch ich wusste, dass sie früher oder später eine Pause machen würde.
»Meine Güte«, meinte Stacey schließlich
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