Messias-Maschine: Roman (German Edition)
»Es ist nicht deine Schuld, dass ich dich beeindrucken wollte.«
»Wolltest du das?« Sie wirkte ehrlich überrascht. »Ich dachte immer, dass du eher auf mich herabschaust. Du hast nie so gewirkt, als würdest du meine Gesellschaft mögen.«
Ich schlug die Hände vors Gesicht. Hinter meinen Augen verspürte ich diesen dumpfen Druck. An diesem Punkt hatte mein Verrat an Lucy begonnen. Marija hatte mir ihre Freundschaft angeboten. Stattdessen hatte ich mich – im vollen Bewusstsein – für einen verwirrten, gerade erst zu Bewusstsein gekommenen Roboter entschieden, der die Rolle meiner Freundin einnehmen sollte. Was würde Marija von mir denken, wenn sie davon erfuhr?
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Marija.
Ich nahm die Hände vom Gesicht. »Ja. Ich bin bloß … müde.«
»Komm doch mit zu meinem Onkel. Da kannst du dich waschen und was essen und auch schlafen, wenn du möchtest. Du siehst aus, als könntest du ein bisschen Schlaf gebrauchen.«
»Allerdings könnte ich das.«
»Dann komm, hier geht’s lang. Wohin bist du unterwegs, George? Wo kommst du her?«
Mit einer Geste schob ich die Frage beiseite. Diese Last hatte ich abgelegt, als ich in den Wassertank gestiegen war, und ich wollte sie nicht so bald wieder schultern.
Sie lachte. »Na schön. Erzähl’s mir später. Hör mal, ich sollte dich besser warnen: Onkel Tomo ist ein Priester. Keine Sorge, er ist kein Fanatiker. Er denkt pragmatisch, so wie die meisten in Montenegro. Na schön, es ist zwar genau wie Russland und Serbien und die griechischen Staaten eine orthodoxe Theokratie, aber unser Bischof ist kein Eiferer. Wir halten uns aus dem ganzen Ärger raus und machen so gut es geht mit unserem Leben weiter. Es gefällt mir ziemlich gut. Ich glaube, ich war früher viel zu versessen darauf, alles zu verändern. Ich bin wohl nie darauf gekommen, dass das schon andere vor mir versucht haben.«
Kapitel 62
D ie orthodoxen Priester mit ihren langen Bärten und Roben hatten mich immer eingeschüchtert, doch Marijas Onkel mochte ich sofort. Er war ein kleiner, scharfsinniger, drahtiger und humorvoller Mann mit einem schmalen Gesicht und durchdringenden blauen Augen, die ihm etwas Irisches verliehen. Seine Frau Nada (Kinder hatten die beiden nicht) war mir ebenfalls sofort sympathisch. Sie wirkte fast wie eine weibliche Version ihres Ehemanns, dünn und drahtig, mit einem klugen, ironischen Lächeln. Sie beide hatten ihr ganzes erwachsenes Leben in diesem kleinen montenegrinischen Dorf verbracht, doch sie waren dem Rest der Welt gegenüber aufgeschlossen und wirkten ehrlich erfreut über mein Eintreffen. Sie ließen mir ein Bad ein, suchten Kleider für mich raus und bereiteten mir ein Bett für ein Mittagsschläfchen. Während ich im kühlen Bad saß, holte Tante Nada mir guten Wein aus dem Keller, und mir zu Ehren nahm Onkel Tomo einer Ziegenmutter ihr Lamm weg und schlachtete es persönlich. Ich hatte das angenehme, wenn auch trügerische Gefühl, heimzukehren.
Doch es wurde komplizierter, als wir alle gemeinsam bei Tisch saßen und Marija, ihre Tante und ihr Onkel mich drängten, von meinen Reisen zu erzählen.
»Das muss jetzt zwei Jahre her sein«, sagte Marija, die einfach nicht anders konnte, als direkt zu sein. »Wo warst du die ganze Zeit? Was hast du getrieben?«
»Tja«, fing ich an. »Zuerst bin ich runter nach Griechenland, und dann …«
Es war ziemlich schwer, eine überzeugende Geschichte zu konstruieren, in der Lucy nicht vorkam, aber ich rechnete nicht damit, weiterhin so freundlich aufgenommen zu werden, wenn ich ehrlich war und diesen Leuten gegenüber zugab, dass ich mit einem belebten Sexspielzeug aus Illyrien geflohen war und anschließend seine Zerstörung herbeigeführt hatte.
»Dann habe ich eine Anstellung bei einem Bauern namens Zhavkov gefunden«, erzählte ich. »Die Arbeit dort hat mir gefallen, aber mit der Zeit hat seine Tochter mich ein bisschen zu sehr gemocht. Sie war schon nett, aber … na ja, sie ist ziemlich aufdringlich geworden, und …«
»Und dann bist du gerannt und gerannt, bis deine Kleider in Fetzen hingen und du wie ein Landstreicher gestunken hast«, ergänzte Marija bissig.
Ich hatte gehofft, die Geschichte mit Zhavkov und Leta locker und lustig rüberzubringen, als ein Ereignis, das meine Menschlichkeit und Warmherzigkeit bewies. Aber anscheinend hatte ich Marija nicht an der Nase herumführen können.
Schnell wollte ich das Thema wechseln und drehte mich zu Onkel Tomo
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