Metropolis brennt
eigensinnige Tiere, die niemals mit etwas zufrieden sind.“
Carmody stieg in sein Auto ein und ließ den Motor an.
„Aber natürlich“, sagte die Stadt nachdenklicher, „seid ihr auch nie unzufrieden mit etwas. Die Moral ist wahrscheinlich, daß eine Stadt Geduld lernen muß.“
Carmody wendete den Wagen in die King’s Highbridge Gate Road und fuhr nach Osten, Richtung New York.
„Gute Reise!“ rief Bellwether hinter ihm her. „Und machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen. Ich werde auf Sie warten.“
Carmody wünschte sich wirklich sehr, er hätte diese letzte Bemerkung nicht gehört.
Horst-Günter Rubahn
Die Prozession
Sie legte das Strickzeug für einen Moment beiseite und sah auf ihre Finger hinab, die faltig und voller Leberflecken waren, gezeichnet durch ein langes Leben voller Arbeit und Mühen. Ihre Mundwinkel zuckten leicht, als sie ihre Brille flüchtig putzte und durch das hohe Fensterkreuz auf die Straße hinausblickte. Ein morgendlich leeres, graues Betonband schlängelte sich vor ockerfarbenen Hochhäusern entlang, die ihr Blickfeld auf die nächsten dreißig Meter eingrenzten. Unten, auf dem schmalen Bürgersteig, entdeckte sie ein Kind, das mit einem rotweiß gepunkteten Ball spielte. Der Ball prallte auf, wurde von der harten Oberfläche zurückgeschleudert und verschwand in einer eckigen Toreinfahrt. Das Kind rannte ihm hinterher.
Die Finger der alten Frau nahmen ihre Handarbeit wieder auf. Fast anderthalb Meter mochte der grünblaue Schal jetzt lang sein, den sie strickten, und in ein paar Tagen würde er fertig sein. Er würde zu all den anderen Schals und Handschuhen und Pullovern wandern, in einen knorrigen, alten Eichenschrank, in dem sie die Sachen aufzubewahren pflegte, die sie für ihren vor langen Jahren verstorbenen Mann anfertigte. Der Gedanke an ihren Mann ließ sie seufzen.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers erhellte sich pünktlich zu den Neun-Uhr-Meldungen die Bildschirmwand. Bunte Bilderketten flimmerten zwischen zwei ehrwürdigen Stuck-Engeln und an einer dunkelbraunen Glaskommode vorbei. Die dazugehörige Stimme drang murmelnd in die Ohren der alten Frau. „… hat unsere Station auf Ganymed endlich die Lager gefrorenen Sauerstoffs entdeckt“, erklärte sie gerade, um sich gleich darauf in minutenlangen Lobpreisungen des Wunders christlicher Raumfahrt zu ergehen. „Man kann“, sagte die Stimme, „nicht oft genug daran erinnern, daß all unsere Raumfahrterfolge, aber auch der Wohlstand und die Sicherheit, die wir hier auf der Erde genießen, letzten Endes auf die erfolgreiche Nutzung der Kernfusion zurückgehen. Es scheint unglaublich, daß es noch vor wenigen Jahrzehnten Kreise auf der Erde gab, die der Kernfusion keine Chance …“ Die alte Frau blickte wieder aus dem Fenster hinaus, während das Murmeln hinter ihr zu einem unverständlichen Wort- und Satzgemenge wurde.
Jeden Moment mußte er jetzt kommen, dachte sie, und diese paar Stunden, diese kurzen paar Stunden in der endlos langen Woche würden viel zu schnell vorbeigehen. Sie warf einen flüchtigen Seitenblick auf das kleine Päckchen, das auf einem niedrigen Tischchen unter dem Fenster stand. Das lebhafte, gelbe Geschenkpapier leuchtete, die rote Schleife wiegte sich fröhlich. Es war nicht leicht gewesen, das Geschenkpapier zu erhalten. Dafür war heute kein Bedarf mehr vorhanden.
Aber er würde sich freuen, dachte sie. Der nette junge Mann, der sie einmal in der Woche aufsuchte, um mit ihr ein wenig auf seine freundliche Art zu plaudern, er würde sich freuen. Sie war ganz sicher. Er verstand sie.
Auf der Straße tauchte der Beginn eines Prozessionszuges auf, drei dunkel
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