Meuterei auf der Elsinore
Mellaire nicht traf, schlug ihm doch eine Bucht des Taus die Mütze ab.
Pike wollte schon einen mächtigen Fluch nach oben schicken, als er plötzlich die furchtbare Narbe am Kopf des Untersteuermanns bemerkte. Sie war jetzt allen Augen sichtbar, wenn auch nur Pike und ich wußten, was sie bedeutete. Das dünne Haar auf dem Schädel des Untersteuermanns verdeckte die tiefe Schmarre nicht.
Die Flüche und Schimpfworte, die Pike schon für Ditman Olansen in Bereitschaft hatte, blieben ihm in der Kehle stecken. Gelähmt starrte er auf die furchtbare Narbe. Seine großen Fäuste ballten sich krampfhaft, ohne daß er es merkte, während er das unverkennbare Zeichen anstarrte, von dem er gesagt hatte, daß es ihm eines Tages den Mörder Kapitän Sommers’ enthüllen würde. Im selben Augenblick erinnerte ich mich auch seiner Worte, daß er eines Tages seine Finger in diese Zeichen legen würde.
Immer noch wie im Traum ging der Steuermann mit ganz langsamen Schritten auf Mellaire zu – die eine Hand hielt er ausgestreckt, die Finger wie Krallen einer furchtbaren Pranke gekrümmt. Offenbar hatte er unbewußt die Absicht, seine Finger in die entsetzliche Narbe zu stoßen, um das lebendige Gehirn, das darunter klopfte und pulste, herauszuzerren und zu zerfetzen. Der Untersteuermann zog sich ebenso langsam über die Brücke zurück, während Pike allmählich zum Bewußtsein zu kommen schien. Er ließ den ausgestreckten Arm sinken und blieb einen Augenblick stehen.
»Jetzt erkenne ich dich«, sagte er dann, mit seltsam bebender Stimme, die in gleichem Maße Alter und Erregung enthüllte. »Vor achtzehn Jahren warst du auf der Cyrus Thompson, als ihre Masten über Bord gingen. Sie sank, nachdem ihr lange auf der Seite gelegen hattet. Es blieb nur ein Boot übrig, das gerettet wurde, in dem du saßest. Es ist elf Jahre her, daß Käpt’n Sommers vom Jason Harrison im Hafen von San Francisco von seinem Untersteuermann zu Tode geprügelt wurde. Der Untersteuermann war einer der Überlebenden der Cyrus Thompson… ein verrückter Schiffskoch hatte ihm einmal ein Loch in den Schädel geschlagen. Es blieb eine tiefe Narbe, und diese Narbe sehe ich jetzt in deinem Schädel. Der Untersteuermann hieß Sidney Waltham. Und wenn du nicht Sidney Waltham bist…«
In diesem Augenblick tat Mellaire – oder richtiger Sidney Waltham – trotz seinen fünfzig Jahren das einzige, was er tun konnte. Er sprang seitwärts über das Geländer der Laufbrücke, ergriff die Wewelinge des Mittelmastes und brachte sich auf dem Großluk in Sicherheit. Dann sprang er über das Luk und verschwand in der Tür seiner Kammer.
So tief war Pike in seine sinnlose Wut versunken, daß er plötzlich wie ein erwachender Schlafwandler stehenblieb und sich die Augen rieb. Im nächsten Augenblick tauchte der Untersteuermann wieder auf, hatte aber eine zweiunddreißigkalibrige Pistole in der Hand, mit der er sofort zu schießen begann.
Pike, jetzt wieder ganz der alte, blieb einen Augenblick stehen und rang offenbar mit zwei Entschlüssen. Sollte er schnell über das Geländer der Laufbrücke springen und sich auf den Mann stürzen, der ihn niederknallen wollte, oder sollte er sich zunächst zurückziehen? Er entschied sich für letzteres. Als er in weiten Sprüngen die schmale Treppe nahm, brach die Meuterei aus.
Es begann damit, daß Arthur Deacon, der oben in den Stengewanten war, sich vornüber beugte und einen stählernen Maripfriem nach dem flüchtenden Steuermann warf. Blitzend sauste er durch die Luft, fehlte jedoch Pike, hätte aber um ein Haar Possum durchbohrt – der ganz außer sich vor Angst bellend achteraus lief. Der Maripfriem bohrte sich tief in die hölzernen Planken des Laufbrückenbodens ein.
Wenn ich jetzt die Einzelheiten zusammenzufügen versuche, ist mir klar, daß ich vieles von dem, was geschah, übersehen habe. Ich weiß, daß die Matrosen, die in den Wanten waren, wieder herunterkamen, aber ich habe sie nicht herunterklettern sehen. Ich weiß auch, daß der Untersteuermann die Kammer seines Revolvers leerte, aber ich hörte nicht alle Schüsse. Ich weiß, daß Lars Johanson, der am Ruder stand, das Steuerrad verließ und trotz seinem kranken Bein in größter Eile über die Kampanje humpelte, die Leiter hinabkletterte und schnell nach dem Mannschaftslogis lief. Ich entsinne mich, daß ich das Trappeln der vielen Füße hörte, als die Matrosen im Logis über das Deck gelaufen kamen. Pike suchte hinter dem Kreuzmast Deckung. Als der
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