Mexiko, mein anderes Leben (German Edition)
kleiner Lkw mit einer offenen Ladefläche, die mit Holzlatten begrenzt war. Auf diesem Lkw standen in etwa zwanzig Menschen dicht an dicht, sodass keiner sich auch nur ein Stück bewegen konnte. Das hatte ich nie vorher gesehen, aber in Mexiko ist es normal. Sie standen dort auf dem Auto, wie Ölsardinen in einer Büchse liegen. Lachend und redend freuten sie sich auf ihren Feierabend, während das Auto in schneller Fahrt nach einer Kurve unseren Blicken entschwand.
Als auch wir diese Kurve passiert hatten, ging es plötzlich nicht mehr weiter. Der Transporter stand quer auf der Straße und versperrte uns den Weg. Wir mussten anhalten. Vor diesem Fahrzeug lag etwas und ich dachte erst, es sei ein Hund oder ein anderes Tier. Langsam fuhren wir an die Stelle heran und bald mussten wir erkennen, dass es ein Mensch war. Eine große Blutlache färbte die Straße rot, er war tot. Der Laster war leer und niemand stand mehr dort oben, um sich auf den Feierabend zu freuen. Ich konnte gar nicht so schnell begreifen, was passiert sein könnte und warum dort nur der eine tote Arbeiter lag. Wo waren die anderen, die erst noch so vergnügt hinten draufgestanden hatten? Dann jedoch sah ich es. Der Fahrer musste aus irgendeinem Grund eine Vollbremsung gemacht haben und dabei waren alle Arbeiter aus dem Auto geschleudert worden. Sie lagen wie ausgeschüttete Mikados nebeneinander und übereinander am Rande auf einem Grasstreifen. Es war eine grauenvolle Stille und kein Motorengeräusch erfüllte die sonst so belebte Straße. Nur das Stöhnen, Wimmern und Schreien der Verletzten war zu hören. Wir waren die ersten Menschen am Unfallort. Mein Herz raste und ich fühlte, dass es jeden Moment stehenbleiben könnte. Robert dagegen riss geistesgegenwärtig die Autotür auf und rannte hinaus. Aber was konnte er denn tun? Dies war kein normaler Unfall, es war ein Massenunfall, mit vielen Toten und Schwerverletzten. Ich saß wie gelähmt im Auto und schaffte es nicht, auszusteigen. Aber auch Robert war nicht in der Lage, irgendetwas Sinnvolles zu unternehmen. Mein Blut rauschte wie ein großer Fluss durch den Kopf und trotzdem konnte ich ganz in der Ferne die Sirenen der vielen Krankenwagen, der Feuerwehr und der Polizei hören. Robert lief immer noch völlig sinnlos zwischen den stöhnenden, schreienden und teilweise schon verstummten Menschen umher. Die Bilder des Grauens waren schrecklich. Die Polizei hegte sofort den Verdacht, unser Auto hätte den Unfall verursacht. Aber der Fahrer des Transporters, der unverletzt geblieben war, konnte den Hergang berichten und uns entlasten. Wir waren keine Zeugen, außerdem verstand hier niemand Deutsch oder Englisch, also wurden wir nicht mehr gebraucht und durften weiterfahren. Die Bilder des Entsetzens werden uns nie wieder loslassen, vor allem nicht die Schreie, das Wimmern und Stöhnen von Menschen, die im Sterben lagen. Ein Jahr nach dem Unfall fuhren wir wieder diese Straße entlang und dort standen neun Kreuze im Gedenken an neun Mexikaner, die dort ihr Leben lassen mussten.
Noch ein paar Stunden trennten uns von unserer neuen Heimat Cabo San Lucas, doch das schreckliche Erlebnis war immer noch gegenwärtig und es fiel uns sehr schwer, wieder neue Eindrücke aufzunehmen. Wir fuhren durch Todos Santos, ein wunderschönes mexikanisches Dorf mit einem gewissen Flair. Dieser Ort an der Südwestküste Niederkaliforniens wurde vor Jahrzehnten als Künstlerkolonie bekannt. Tatsächlich leben in Todos Santos auch heute noch viele nordamerikanische Künstler, die das gemächliche Lebensgefühl im sonnigen Wüstenklima dem der amerikanischen Städte vorziehen. Hier scheint die Zeit stehenzubleiben und die Menschen genießen den Tag ohne Hektik und Stress.
Der ganze Ort besteht fast nur aus Künstlergalerien, denn die Malerei hat dort ihre Heimat gefunden. Vor den Häusern sitzen Mexikaner, rauchen friedlich ihre Zigarre, dösen in der Sonne oder halten einen kleinen Plausch. Sie lassen sich treiben in der Zeit und von nichts und niemanden ablenken. Auch das „Hotel California”, welches durch den Song der Eagles in den siebziger Jahren berühmt geworden sein soll, strahlt diese unerschütterliche Ruhe aus. Aber sicherlich ist dies nur eine Legende, denn tatsächlich waren die Eagles niemals hier. Hinter den orangefarbenen Rundbögen des Hauses verbirgt sich ein exotischer Garten inmitten eines idyllisch gelegenen Hinterhofes. Wenn man dort verweilt, kann man
Weitere Kostenlose Bücher