Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
wenigsten.
Im Sommer änderte sich unser Leben, dann spielte es sich mehr oder weniger im Freien ab. Wir Kinder konnten länger aufbleiben und auch abends noch draußen spielen. Nach der Arbeit saßen auch die Erwachsenen vor der Tür und schwatzten noch mit den Nachbarn oder Freunden. Aber der Höhepunkt eines jeden Sommers waren die Verwandten. Im Juli oder August kamen sie aus Deutschland angereist, um uns zu besuchen. Sie verbrachten dann immer zwei, drei, manchmal vier Wochen im Dorf. Das war in jeder Familie ein großes Hallo. Auch wir bekamen Besuch aus Deutschland. Der Bruder meiner Mutter lebte schon einige Jahre in Berlin und kam regelmäßig nach Hause.
Eines Tages brachte er ein großes Paket mit. Die ganze Familie hatte sich versammelt, und mein Vater packte es aus. Darin war ein rechteckiges braunes, ziemlich großes Ding. Vorne war es mit Stoff überzogen und hatte eine große Scheibe, die sich drehen ließ. Am unteren Rand war eine Leiste mit Tasten. Als mein Onkel eine Taste betätigte, ertönte plötzlich Musik. Ich erschrak! Wo zum Teufel kam die Musik her? Vorsichtig näherte ich mich dem wundersamen, braunen Kasten und schlich drum herum. Irgendwo mussten die Leute doch sein, die diese Musik machten? Der Onkel, die Eltern und all die anderen Erwachsenen, die im Raum waren, brachen in schallendes Gelächter aus. Obwohl ich nichts gesagt hatte, hatten sie meine Absicht durchschaut. Ich stand vor dem ersten Radiogerät meines Lebens. Dieser Zauberkasten hat mich im Sturm erobert. Sooft es nur irgend ging, hörte ich Radio. Eine Liebe, die ich übrigens mit meinem Vater teilte. Natürlich kam er immer an erster Stelle. Wenn er etwashören wollte, musste ich verzichten, aber wenn er nicht zu Hause war, hing ich mit mindestens einem Ohr am Gerät. Mit seinem Geschenk hatte mein Onkel für die größte Abwechslung in meinem Leben gesorgt.
Irgendwann, ich muss so zehn oder elf gewesen sein, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Ich spürte, dass sich – fast unmerklich – etwas zu verändern begann. Manchmal schauten mich die Erwachsenen so komisch an. Gut, ich war ein bisschen gewachsen, und auch meine Figur begann sich zu verändern, aber ansonsten war ich doch einfach noch ein kleines Mädchen. Freilich hatte ich schon mitbekommen, dass es ein Geheimnis zwischen Männern und Frauen gab, aber was das war, wusste ich nicht. Obwohl bei uns die Frauen, wenn sie unter sich sind, immer sehr offen reden, über Liebe und Sex und überhaupt. Aber das habe ich damals überhaupt nicht verstanden. Ich war doch noch ein Kind.
Das Ende der Kindheit
Als ich elf Jahre alt war, veränderte sich mein Leben schlagartig. Es war im Frühsommer, ich kam gerade aus der Schule, meine Mutter stand am Herd und kochte. Sie hatte geweint, das sah ich gleich. Ich lief zu ihr hin und nahm sie in den Arm. » Anne , anne , was ist dennIch hatte keine Ahnung, was da im Vorfeld abgelaufen war.Weder los? Komm, sag mir, was los ist?«, bettelte ich.
Sie aber rührte weiter im Kochtopf, dann sagte sie tonlos: »Heute Abend bekommen wir Besuch.«
»Wer kommt denn?«, fragte ich neugierig.
Sie erwiderte kurz angebunden: »Tante Songül und Onkel Ahmed mit deinem Cousin.« ›Komisch‹, dachte ich. Die Verwandten lebten schon seit einigen Jahren in Deutschland, und wir hatten sie lange nicht gesehen. Außerdem wusste ich, dass meine anne mit Tante Songül keinen guten Kontakt hatte. Warum kamen sie plötzlich? Was wollten die drei?
Onkel und Tante mochte ich eigentlich ganz gerne. Und mein Cousin Mustafa? Zu ihm fiel mir nichts ein. Wir waren zwar fast wie Geschwister aufgewachsen, aber eines Tages waren er und seine beiden kleinen Brüder verschwunden. Ich hatte lediglich erfahren, dass sie bei der anderen Großmutter lebten, weil ihre Eltern auch nach Deutschland gegangen waren. Und jetzt kamen sie zu uns, alle drei? Warum? Da nahm anne mich in den Arm und sagte: »Ja, sie kommen und du kriegst einen Ring.« Sie drückte mich an sich und fing wieder an zu weinen. Ich war verwirrt und wusste nicht, was sie meinte.
»Einen Ring? Wozu?« Aber langsam dämmerte es mir, und plötzlich verstand ich, warum Mama weinte. »Oh, nein«, rief ich, »das kann nicht wahr sein.«
Sie nickte, und endlich hatte ich begriffen. Ich sollte verlobtwerden, mit meinem Cousin. Mit Mustafa, der anderthalb Jahre älter als ich und fast wie ein Bruder für mich war. Wir hatten als Kleinkinder miteinander gespielt, oft hatte er mich gefüttert oder
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