Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
Tränen liefen mir unaufhörlich über das Gesicht. Ich wollte nach Hause, nach Hause zu meiner anne . Irgendwann bin ich dann doch aufgestanden und aufs Klo gegangen. Dort habe ich mich notdürftig gewaschen. Ich konnte ja nicht in die Küche gehen, denn Onkel und Tante wären bestimmt aufgewacht. Kein Mensch sollte merken, was passiert war. Das Unglück würde noch früh genug bekannt werden.
In dieser Nacht schlief ich höchstens drei, vier Stunden. Am nächsten Morgen tat Mustafa so, als sei nichts gewesen. Er setzte sich an den von mir gedeckten Frühstückstisch und aß mit großem Appetit, während ich fast keinen Bissen herunterbekam. Ich hatte immer noch starke Schmerzen im Schritt, aber ich hätte mir eher die Zunge abgebissen als meiner Schwiegermutter etwas zu erzählen. Das Leintuch hatte ich heimlich sauber gemacht. Niemand hatte etwas bemerkt. Es war ein Morgen wie jeder andere. Nur für mich war nichts mehr wie zuvor. Der Schwiegervater war schon zur Arbeit gegangen, und die Kleinen tobten wie immer im Zimmer herum. Tante und ich saßen gleich nach dem Frühstück wieder an der Arbeit. Heute war ich froh, arbeiten zu können, dann brauchte ich wenigstens nicht nachzudenken. Mittags lagen in meiner Kiste schon viele schwarze Kabel mit Schaltern dran. Aber Mutter war immer noch nicht zufrieden mit mir. Im Eiltempo aßen wir Eier, Brot und Käse. Und während die großen Jungen zusammen mit Mustafa unten auf der Straße Fußball spielten, waren wir schon längst wieder an der Arbeit. Wir arbeiteten wieder fast bis Mitternacht. Diesmal schlief Mustafa schon, als ich in mein Bett kroch. Obwohl ich todmüde war, konnte ich nicht gleich einschlafen. Sollte so mein Leben in Deutschland aussehen? War das das Paradies, von dem ich geträumt hatte?
Die Tage verliefen immer gleich. Aufstehen, Frühstück richten, essen, arbeiten. Mittags machten wir eine kurze Pause, aßen eine Kleinigkeit, dann arbeiteten Tante und ich wieder bis zum Abendessen. Dann kochen, essen, Kinder ins Bett bringen, weiter arbeiten – bis zum Umfallen. Unsere Arbeit wurde in der ersten Woche meines Aufenthalts in Deutschland lediglich durch Besuche von Verwandten und Freunden unterbrochen. Und die kamen reichlich. Fast jeden Abend war jemand anderer zu Gast. Sie alle wollten »die Neue« aus der Türkei sehen und saßen dann in der Küche auf der Couch oder der Eckbank und beäugten mich neugierig. Sie beobachteten mich genau, während ich Tee kochte und Nüsse, Sonnenblumenkerne oder Kekse auf kleinenTellerchen servierte. Schwiegermutter war zufrieden, das konnte ich sehen. Aber gelobt hat sie mich nicht. Im Gegenteil, wenn unsere Gäste wieder gegangen waren, hatte sie immer irgendetwas auszusetzen gehabt.
Eines Morgens sagte sie zu mir: »Heute Nachmittag gehen wir einkaufen. Du brauchst neue Sachen zum Anziehen, Ayşe . So kannst du nicht unter die Leute, mit dir muss man sich ja genieren.« Ich freute mich. Endlich mal raus aus der kleinen Wohnung. In der ersten Woche hatte ich das Haus nur ein einziges Mal verlassen, um eine Tante, die einige Straßen entfernt wohnte, zu besuchen. Eifrig arbeitete ich an diesem Morgen, um sie nur ja zufrieden zu stellen. Nach dem Essen war es dann so weit. Die Kleinen waren unten bei Tante Gül untergebracht, und wir konnten ohne Kinder in die Stadt fahren. Es war ein schöner Sommertag, und der Fußmarsch zur S-Bahn ging dieses Mal viel schneller, weil wir ohne Gepäck unterwegs waren. Nach einer Dreiviertelstunde Fahrt stiegen wir schließlich aus. Eine große Menschenmenge drängte sich mit uns auf den Bahnsteig und auf eine rollende Treppe, die uns an die Oberfläche brachte. Wir musste eine Weile laufen, bis wir schließlich in einem Riesenkaufhaus landeten. So etwas hatte ich noch nie gesehen! Überall hingen Kleider, Blusen und Röcke in den verschiedensten Farben und Stoffen.
Die Schwiegermutter führte mich in die Kinderabteilung. Hier war ich richtig. Vor lauter Aufregung wusste ich nicht, was ich anprobieren sollte. Als sie das bemerkte, sagte sie zu mir: »Bleib ruhig. Schau dir alles an, und dann such in Ruhe aus. Du brauchst ein paar Kleider, einen oder zwei Röcke, Blusen und ein paar Hosen.«
Ich war überwältigt. Nie zuvor hatte ich so schöne Sachen gesehen. Nie zuvor hatte ich einfach aussuchen dürfen. Ich schwelgte im Glück und konnte mich nicht entscheiden. Mutter verließ schließlich die Geduld, und sie überredete mich zu dem einen oder anderen Teil. Als ich neu
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