Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
hatte eine Lehrstelle hier im Ort gefunden. Seine Firma war gleich um die Ecke, und Arbeitsbeginn war sieben Uhr. Um halb acht waren dann alle weg, nur die zwei Jüngsten blieben bei uns. Mutter hielt nichts von Kindergärten, das war was für die Deutschen, nicht für uns Türken.
Auch ich war mit meinen vierzehn Jahren noch schulpflichtig. Die Gemeinde hatte die Schwiegereltern auch, kurz nachdem sie mich angemeldet hatten, angeschrieben und aufgefordert, mich ab September in die Schule zu schicken. Ich sollte mich am 1. Schultag in der hiesigen Schule vorstellen. Aber meine Schwiegermutter dachte nicht im Traum daran. Ich war schließlich nicht zum Rumsitzen nach Deutschland gekommen. Ich sollte arbeiten und Geld verdienen. Und das konnte ich auch ohne Schulbildung. Also ignorierte sie die Aufforderung und ließ den Termin verstreichen. Vermutlich hat sie den Brief einfach weggeworfen. Danach ist jedenfalls nie mehr eine Aufforderung gekommen.
Nach sechs Wochen Deutschland war ich fest in die Heimarbeit meiner Schwiegermutter eingespannt. Täglich arbeitetenwir, mit kleinen Unterbrechungen, von morgens um acht bis in die Nacht hinein. War eine Kabelrolle fertig, wurden die Schalter in einer Kiste hinter der Küchentür verstaut. Und zweimal in der Woche brachte Mutter die fertigen Teile weg. Wohin sie sie gebracht hat? Keine Ahnung! Ich bekam lediglich mit, dass sie die Wohnung mit den gestapelten Kartons verließ und Stunden später mit neuen Kisten wieder kam. Natürlich ließ sie mich nie ohne Arbeit zurück. Während sie weg war, musste ich auf die Kleinen aufpassen und möglichst noch die Wohnung putzen, Wäsche waschen oder sonst irgendetwas im Haushalt erledigen. Müßiggang gab es bei ihr genauso wenig wie bei meinem Vater.
Damals hatte ich großes Heimweh. Es verging kein Tag, an dem ich nicht an meine anne zu Hause in Ballidere dachte. Immer wieder ging es mir durch den Kopf: ›Wie es ihr wohl geht? Ob sie mich auch so vermisst, wie ich sie?‹ Ich wusste es nicht. Seit meiner Ankunft in Deutschland hatten wir keinen Kontakt gehabt. Briefe schreiben konnte ich nicht, und ein Telefon besaßen wir nicht. Ich litt unsäglich unter der Trennung, und immer wenn ich alleine war, vergoss ich bittere Tränen. Dennoch gewöhnte ich mich langsam an mein neues Leben.
Morgens, wenn Mustafa und die Kinder gegangen waren, arbeitete ich mit Mutter . Ich war inzwischen genauso flink wie sie. Und vormittags schafften wir meistens 450 bis 500 kleine Schalter. Mittags, wenn die Jungen aus der Schule kamen, gab es eine Kleinigkeit zu essen. Käse oder Eier mit Brot. Manchmal gab es auch Würstchen, rote oder weiße. Die roten Würstchen kannte ich, mochte sie aber nicht besonders. Die weißen hingegen hasste ich. Einmal habe ich eines probiert, da hat es mir den Magen gehoben, und ich musste spucken. Ich glaube, das war auch der Grund, warum Mutter sie so oft gekauft hat. Manchmal hat sie auch mittags in der Metzgerei an der Ecke warmen Leberkäse besorgt. Dieses rote, fleischähnliche Etwas mochte ich genauso wenig wie die Weißwürste. Heute weiß ich, dass in den meisten dieser Produkte Schweinefleisch verarbeitet wird. Und es ist mir immer noch schleierhaft, wie Mutter das kaufen konnte.
Wir waren doch Muslime und aßen kein Schweinefleisch! Bei uns zu Hause in der Türkei gab es das jedenfalls nicht.
Zu essen hatten wir immer genug. Vor allem Fleisch. Das hat mich am Anfang begeistert. Ich mochte doch Fleisch so gerne und hatte es viele Jahre entbehren müssen. Trotzdem war es mir nach einer Weile über. Vielleicht lag es daran, dass wir jeden Tag Fleisch aßen oder weil es immer gleich zubereitet war: Es gab Bohnen mit Fleisch oder Fleisch mit Bohnen, je nachdem wie viel sie jeweils davon noch hatte. Ich verstand nicht, warum Mutters Küche so eintönig war, wo die türkische Küche doch so abwechslungsreich ist. Meine anne , die ja unter viel härteren Bedingungen lebte, brachte jeden Tag etwas anderes auf den Tisch. Aber sie kochte auch viel mehr Gemüse.
Beim Essen störten mich auch andere Dinge. Ich bekam zum Beispiel so gut wie kein Obst. Das fand ich besonders schlimm, weil ich vor allem Äpfel liebte. Zu Hause hatten wir fast das ganze Jahr über Äpfel gehabt, und hier gab es sie so selten. Also bat ich Mutter eines Tages, welche zu kaufen. Aber sie kam ohne einen einzigen Apfel zurück. Ich bin sicher, dass sie das absichtlich gemacht hat. So war das auch mit Brot. Ich hatte schon bald nach meiner
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