Michael, der Finne
Irrlehre es eben tut, und die Kenntnis der Bibel verbreitete sich in den niedrigen Ständen auf erschreckende Weise. Jedermann hatte, je nach Vermögen und Gelegenheit, begonnen, von der verbotenen Frucht zu essen, und es dauerte nicht lange, bis jedermann glaubte, sich zur Rechtfertigung seiner bösen Begierden auf die Bibel berufen zu können.
Sebastian hatte mich bei dem ältlichen Stadtpfarrer eingeführt, der aus St. Gallen in der Schweiz stammte. Der war leider ein empfindlicher, ungeschlachter Geselle und offensichtlich von häretischen Gedanken angekränkelt, obwohl er sie nie offen zu bekennen wagte. Doch war er um so eifriger bestrebt, junge Männer an sich zu ziehen, indem er sie zu Diskussionen und zum Biertrinken in sein Haus einlud. Und dort unterstützte er seine Argumente, indem er mit der Faust auf des Erasmus lateinische Bibelübersetzung drosch. Er hatte freilich für Luther nichts übrig, dafür aber in seiner eigenen Heimat, in der Stadt Zürich, einen Lehrer gefunden, der ein noch viel schlimmerer Ketzer war.
Sebastian und der Stadtpfarrer reisten zu Neujahr nach Zürich und hätten mich mitgenommen; allein mir fehlten die Mittel zur Reise. Ich blieb also, wo ich war, und vertrieb mir die Zeit, indem ich einen kleinen grünen Vogel in einem Weidenkäfig fütterte und aus dem Fenster über die Nachbardächer hinstarrte.
Schließlich überwältigte mich die Verzweiflung. Ich legte den Kopf in den Schoß meines Weibes und jammerte bitterlich: »Verlassener, unnützer Unglückswurm, der ich bin! Niemand spricht mit mir; nicht einmal meine eigene Frau kann ich erhalten. Du hast es schlecht getroffen, Barbara, als du mich zum Manne nahmst. Es wäre besser, ich verschwände aus dieser Welt so, wie ich zur Welt kam.«
Sie strich mir mit ihrer schmalen Hand übers Haar und sprach: »Quäle dich nicht, Michael. Ich habe einen Plan. Der Steuereinnehmer des Rates ist ein Trunkenbold. Seine Hände zittern, und er wird bald verunglücken. Dann wirst du, meine ich, seine Stelle kaufen können. Mittlerweile mach ihn dir zum Freund, und gehe ihm unentgeltlich an die Hand; so werden sich die Ratsherren an deinen Anblick gewöhnen und dich nicht mehr verabscheuen.«
Als sie mir das Haar streichelte, erfüllte mich ein tröstliches, wenn auch trügerisches Gefühl der Geborgenheit, und ich achtete nicht sonderlich auf ihre Worte. Ich suchte jedoch des Einnehmers Gesellschaft, und das war einfach: ich lud ihn beim Wilden Eberfang zum Bier ein. Von da an nahm er mich oft in seine Schreibstube oder zu Ratsversammlungen mit und ließ mich beim Entwurf der Protokolle helfen, damit er um so eher ins Wirtshaus zurückkehren konnte. Ich lernte mit den Siegeln umgehen und wurde in die allerhäufigsten Streitsachen über falsche Gewichte und Maße zwischen den Kaufleuten und in die Überwachung der Preise zur Verhinderung unlauteren Wettbewerbs eingeführt. Ich dachte keinen Augenblick daran, wie eintönig und langweilig diese Beschäftigung war, sondern träumte von den Freuden eines friedlichen Lebens und eines leichten Berufes – wie ich an der Seite meines guten Weibes in Ehren alt werden würde und Bücher und die Gesellschaft guter Freunde als irdische Freuden genießen könnte. Ich tat mein Bestes, die Gunst der Ratsherren zu gewinnen, begrüßte sie mit tiefen Bücklingen, erschien immer säuberlich gekleidet und faßte alle Dokumente in meiner schönen Handschrift ab. Auch das schäbige, schlampige und vom Bier entstellte Äußere meines Dienstherrn schreckte mich nicht; in ihm erblickte ich keineswegs ein Abbild meiner eigenen Zukunft im Dienste der Stadt. Ich neidete ihm seine Stellung, und im innersten Herzen wünschte ich ihm Böses.
Sebastian und der Stadtpfarrer kehrten, trunken vor Eifer und Siegeszuversicht, aus Zürich zurück und wurden sogleich von dem evangelischen Pöbel belagert, der sowohl Neues von der Reise als auch weitere Weisungen heischte. Der Stadtpfarrer von Zürich, Ulrich Zwingli, hatte siebenundsechzig Thesen über die Freiheit des Christen von kirchlicher Unterdrückung mit solchem Erfolg verteidigt, daß niemand sie im Ernst widerlegen hatte können.
»Ist es möglich«, rief ich aus, »daß Gott diesem Aufwiegler mehr Gnade zuteil werden ließ, als er den großen Kirchenvätern und allen Heiligen verlieh, die um seinetwillen Folter und Martyrium erduldet haben? Ich kann es nicht glauben, denn Zwingli ist der Sklave seines Fleisches, da er den Zölibat aufgegeben und ein Weib
Weitere Kostenlose Bücher