Michelle Reid
ihn aufgespürt, um ihm einen Kommentar über seine geplatzte Verlobung zu entlocken. Es schien, als sei er wie vom Erdboden verschluckt.
Exakt zwei Wochen nachdem sie mit Leo nach Athen geflogen war, heirateten sie in einer stillen Zeremonie an einem geheim gehaltenen Ort. Natasha trug – weil Leo darauf bestanden hatte – ein trägerloses Kleid aus weißer Seide mit einem bestickten Oberteil, das Persephone für sie gefunden hatte.
Als sie neben Leo stand, um ihr Ehegelübde abzulegen, wirkte er so groß und nüchtern, dass sie fast der Mut verlassen und sie ihre Meinung geändert hätte.
Die Hochzeitsanzeige erschien am nächsten Tag in allen Zeitungen. Doch zu diesem Zeitpunkt befanden sie sich bereits in New York. Offiziell nannten sie es Flitterwochen, allerdings war es in Wahrheit eher der Auftakt zu einer Reise zu sämtlichen von Leos Firmen, die sie um die ganze Welt führte.
Am Tag gab Leo sich als rücksichtsloser Geschäftsmann, abends spielte er den charmanten Mann von Welt, der sich mit Geschäftsfreunden traf. Allmählich lernte auch Natasha die Regeln dieses Spiels.
Und nachts, in der Abgeschiedenheit ihres Schlafzimmers, waren sie leidenschaftliche Liebende, die einander mit unerschöpflichem Verlangen begehrten.
Von New York aus ging es nach Hongkong, weiter nach Tokio und Sydney. Als sie nach zwei Wochen wieder auf griechischem Boden landeten, hatte Natasha sich vollkommen verändert. An ihr früheres Ich konnte sie sich kaum noch erinnern.
Schlimmer wog jedoch, dass sie sich erlaubt hatte, die wahren Gründe zu vergessen, die zu ihrer Hochzeit geführt hatten.
Die erste Erinnerung erhielt sie, als sie durch den Flughafen von Athen gingen und an einem Stand mit englischen Zeitungen vorbeikamen. Cindys Name stand groß auf der Titelseite. Sie feierte ihren ersten Nummer-Eins-Hit.
„Ihr Traum ist wahr geworden“, kommentierte Leo trocken.
„Ja“, entgegnete Natasha nur.
Die nächste Erinnerung an das, was sie in England hinter sich zurückgelassen hatte, fiel ihr als Teil des Glückwunschkartenstapels in die Hände, der sie bei ihrer Rückkehr in die Villa erwartete. Natasha erkannte die Handschrift auf der Karte sofort. Adressiert war sie ausschließlich an sie.
Auf der Innenseite waren die traditionellen Wünsche nebst silbernen Hochzeitsglocken abgebildet. Ihre Mutter hatte nur eine kurze Nachricht hinzugefügt. „Wir wünschen dir viel Glück in deiner Ehe.“ Das war alles. Kein liebes Wort, kein Zeichen, dass sie sie immer noch als ihre Tochter liebten.
„Vielleicht wissen sie, dass sie dich schlecht behandelt haben, und haben keine Ahnung, wie sie sich entschuldigen sollen“, schlug Leo vor.
„Und vielleicht sind sie einfach nur erleichtert, nach vierundzwanzig Jahren einen Schlussstrich unter den größten Fehler ihres Lebens ziehen zu können.“ Natasha drehte den Umschlag in ihren Händen. „Ich frage mich nur, woher sie diese Adresse kennen.“
„Von Angelina. Sie haben den Kontakt zu ihr gehalten.“
„Du wusstest davon und hast es mir nicht gesagt?“
„Warum sollte ich?“, fragte er schulterzuckend zurück. „Angelina brauchte die Gewissheit, dass ihr Sohn nicht von einer geschäftstüchtigen Cindy an die Presse verkauft wird. Deine Eltern brauchten die Gewissheit, dass ihre liebe Tochter nicht von einem verbitterten Rico aus Rache verraten wird.“
Natasha schob die Karte zurück in den Umschlag, ohne einen weiteren Blick daraufzuwerfen.
Eine weitere Woche verstrich. Leo arbeitete intensiv an einer Übernahme, die er während seiner Reise um die Welt vorbereitet hatte. Jetzt, da sie wieder in Athen weilten, widmete er seine gesamte Zeit dieser Aufgabe. An manchen Tagen kam er überhaupt nicht nach Hause, weil er kurzfristig zu einem Meeting in ein anderes Land fliegen musste.
Die Tatsache, dass er sie nicht mehr mitnahm, bereitete Natasha keine Sorgen. Es gab andere Dinge, an die sie nun denken musste. So hatte sie Leo zwar ihre neue Garderobe aus Designerkleidern bezahlen lassen, für alles andere jedoch kam sie selbst auf. Nun waren ihre ohnehin kärglichen Ersparnisse fast gänzlich geschmolzen. Sie brauchte dringend einen Job.
Natasha war nicht wählerisch, sie würde jede Arbeit annehmen. Allerdings fand sie rasch heraus, dass sie ohne Griechischkenntnisse keinen Bürojob bekommen würde. Also begann sie, sich an den Plätzen umzusehen, die bei Touristen beliebt waren. Vielleicht würde dort jemand eine durchaus intelligente Engländerin mit
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