Mick Jagger: Rebell und Rockstar
Salz in die Wunde.
Mit »State of Shock« legte Mick das Fundament für sein erstes Soloalbum She’s The Boss , das 1985 erschien. MTV war dabei. CBS war dabei. Nile Rodgers von Chic, der gerade Duran Durans Erfolgsalbum Seven and the Ragged Tiger sowie The Swing von INXS produziert hatte (und der für David Bowies MTV-kompatiblen Megaseller Let’s Dance verantwortlich zeichnete), war ebenfalls dabei. Hinzu kamen die besten Sessionmusiker der Welt: Sly & Robbie, Herbie Hancock und Jeff Beck. Die Einzigen, die nicht mit von der Partie waren, waren die Rolling Stones.
»Das Album ist ein weiterer Beweis dafür, dass sich Jagger – anders als die meisten anderen Musiker jenseits der vierzig – die zeitgenössischen musikalischen Strömungen zueigen machen kann, ohne peinlich zu wirken«, schwärmte der Rolling Stone . Auch wenn es immer wieder unfairerweise mit Micks schwächeren Soloarbeiten über einen Kamm geschoren (oder mit den besten Stones-Werken verglichen) wird, ist She’s The Boss durchaus eine gute Platte: Der Gesang ist gut, die Songs sind musikalisch überzeugend und die Produktion sucht ihresgleichen. Wenn überhaupt etwas fehlt, dann sind wir es – die Hörer. Das Album hat unser Interesse nicht geweckt, und das ist sein größter Makel. Wenn wir die Stones hören, denken wir immer an ein großes »Wir«. Hören wir Mick (oder auch Keith) solo, denken wir lediglich »er«. Wir alle sind schließlich die Rolling Stones. »Die Stones sind immer noch in der Lage, uns das Gefühl zu vermitteln, dass wir von denselben Mauern eingeengt, denselben Sorgen geplagt, denselben Dingen enttäuscht und denselben Tragödien heimgesucht werden wie sie«, schrieb Lester Bangs. Aber es gibt nur einen Mick. Wir können ihn uns nicht ohne Keith und Charlie an seiner Seite vorstellen.
Wenn man sich Mick Jaggers Solokarriere anschaut, zu der zweifelsohne auch einige kommerzielle Flops gehören, vergisst man leicht, wie erfolgreich seine Singles 1985 tatsächlich waren. Mick wird kaum die Anerkennung dafür zuteil, dass er sein selbstgestecktes Ziel erreicht hat. Er hat es geradezu mustergültig geschafft, die MTV-Zielgruppe zu erreichen; mit zweiundvierzig Jahren war er auch noch ein Videoclip-Star.
In einem Universum, in dem der Thriller -Clip das Maß aller Dinge war, reichte es nicht mehr aus, ein simples Dreiminutenvideo zu drehen. Echte Superstars warteten bei MTV mit regelrechten Kurzfilmen auf, worauf der Sender die Videopremieren als eigenständige Events inszenierte. David Bowie hatte zusammen mit Julien Temple 1984 den zwanzigminütigen Kurzfilm Jazzin’ for Blue Jean gedreht, und eben diesen Regisseur engagierte Jagger nun auch für sein eigenes Video. Micks Vorstoß in die Welt der aufgeblähten Musikvideos sollte länger werden als Thriller , länger als Jazzin’ for Blue Jean , aber nicht ganz so lang wie Die Farbe Lila oder Jenseits von Afrika . Running out of Luck war ambitioniert. Was fehlte, war ein Skript.
»Es gab Stichworte auf einer Papierserviette, die allerdings auch nur Mick und Julien je gesehen hatten«, erklärte mir Rae Dawn Chong, Micks Videopartnerin. Es ist eine fantastische Erzählung, in der sich Jagger, seine Frau und diverse Liebhaber durch das äußerst reale Chaos des Videozeitalters hindurchlavieren: Mick und Jerry Hall (die sich selbst spielen) streiten sich während der Aufnahmen zu dem Videoclip für den She’s the Boss -Song »Half a Loaf«, der in Brasilien gedreht wird. Dennis Hopper (kurz bevor er dem Alkohol abschwor und mit Blue Velvet sein Comeback feierte) ist in der Rolle des Clip-Regisseurs zu sehen (»You’re ready to rock, right?«). Dutzende Tänzer, tonnenweise Equipment und unzählige Meter Film verschlangen viel Geld für – ja, für was eigentlich? »Das war ein völliges Schicki-Micki-Chaos«, so Chong. »Dennis Hopper war ein wilder, angsteinflößender Kerl, der mit mir losziehen wollte, um Drag Queens zu fotografieren. Ich lehnte dankend ab. Rio war ein gefährliches Pflaster. Ich war damals noch nicht wirklich erwachsen. Dennoch hatte ich schon ein Kind und wollte einfach in einem Stück wieder nach Hause kommen. Das Leben in Brasilien war wirklich nicht lustig, vor allem nicht in Rio.«
Da ist schon etwas Wahres dran, immerhin wird Mick in dem Video von einer Handvoll brasilianischer Transvestiten ausgeraubt und landet im Kühlcontainer eines Fleischtransporters, bevor er sich nacheinander in einem Arbeitercamp, einer Gefängniszelle und später
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