Mick Jagger: Rebell und Rockstar
partout nicht als Retro-Act wahrgenommen werden.«
Mick distanzierte sich in seinen Vierzigern langsam von seinem Frühwerk. Die Rolling Stones waren anfangs selbst Fans gewesen, die Platten gesammelt und sich intensiv mit der Musik ihrer Idole auseinandergesetzt hatten, und ihre eigenen Fans waren auch immer ein bisschen so gewesen; auch heute noch stolpert man über Websites, auf denen alle jemals auf B-Seiten veröffentlichten Songs, sämtliche Konzerte seit dem ersten Auftritt und alle irgendwann und irgendwo erschienen Bootlegs verzeichnet sind. In Interviews stellte sich Mick mit einem Mal dumm, was die Geschichte der Band betraf. Über bestimmte Details in der Publikationshistorie der Stones-Alben zu sprechen, was bei Fans wie German hitzige Diskussionen auslösen konnte, war unter seiner Würde. »Ich bin kein Historiker«, sagte er einmal. »Ich habe keine Ahnung von unserer Geschichte. Ich weiß nicht einmal, welche Songs auf welchen Alben erschienen sind. Ich muss das nachschauen.«
»Keith weiß, wie die Butter auf sein Brot kam«, sagt German, »Mick vergisst so was. Sorry, Mick, aber du hast es dir mit uns, den ebenso leidenschaftlichen wie akribischen Fans, ordentlich verdorben.« Ein solch offen zur Schau gestelltes Desinteresse warf ein schlechtes Licht auf die Band, dachte Keith verärgert. »Keith sagte: ›Diese jungen Bands können dir nichts geben. Was willst du von ihnen?‹«, erinnert sich German. »Er schätzt Bewährtes. Während diese Bands für ihn nichts weiter als kurzlebige Modeerscheinungen waren, lud Mick sie ins Studio ein, wenn Keith nicht da war.«
Mit dem wachsenden Einfluss von MTV wurden die Videos der Stones immer raffinierter, kostspieliger und handlungsorientierter, fast wie Filme im Miniaturformat. Ihr Big-Budget-Clip »Undercover of the Night« feierte im Herbst 83 Premiere auf MTV – im selben Jahr, als Scarface in die Kinos kam. Der Plot war (für die damalige Zeit) ziemlich gewalttätig und erhitzte deshalb die Gemüter. Jagger schlüpft in verschiedene Rollen, er spielt einen wohlhabenden südamerikanischen Geschäftsmann, einen Rockstar, der von maskierten Terroristen entführt wird, und – in einem Video im Video – Mick Jagger, den Sänger der Rolling Stones. Angeschaut wird das ganze von einem jungen Pärchen, das auf der Couch vor dem Fernseher sitzt und zwischen dem vermeintlichen Film und dem Video auf MTV hin- und herzappt. In einem unmissverständlich symbolischen Akt feuert Keith in dem Clip eine Kugel auf einen Fernseher ab.
MTV strahlte das Video mit einer vorangehenden Warnung aus. Vereinigungen besorgter Eltern nahmen diesen Clip zum Anlass, um eine neue öffentliche Diskussion zum Thema »Gewalt in Videos« in Gang zu setzen. Die Stones mochten inzwischen um die vierzig sein, aber sie waren immer noch gefährlich, lautete die implizite Botschaft. Der Clip zu »Too Much Blood«, eine weitere Nummer auf der Grundlage eines New-Wave-Sounds mit Funk-Bass im Stil von Duran Duran (die selbst wiederum bei Chic abgekupfert hatten), war sogar noch ein bisschen umstrittener. Während des Breaks sitzt Mick, eine dunkle Sonnenbrille tragend, an einem Tisch. Er gießt Wein in einen Becher und erzählt von einem Mordfall, dem eine kannibalistische Tat folgte; dieser Fall hatte sich in Frankreich tatsächlich zugetragen und ihn zu diesem Song inspiriert: »He took her to his apartment, cut off her head. Put the rest of her body in the refrigerator, and ate her piece by piece …« Das hört sich fast an wie Rap, was Keith noch schlimmere Kopfschmerzen bereitet haben dürfte als die New-Wave-Sounds auf Emotional Rescue . An dieser Stelle soll übrigens kurz festgehalten werden, dass ganz gleich wie außergewöhnlich, düster und ambitioniert diese Videos auch waren, jedes davon einen unbeeindruckt vor sich hintrommelnden Charlie Watts einfängt, der die Augen verdreht – was in einer kurzen Großaufnahme zu sehen ist.
Micks größtes Zugeständnis an die Videogeneration stand allerdings noch aus. Und das war etwas, das die Rolling Stones beinahe für immer entzweit hätte.
1984 waren die Rolling Stones und Michael Jackson beim selben Label unter Vertrag, und beide standen unter dem Druck, würdige Nachfolger für ihre Hitalben abzuliefern – wobei die Hypothek für Michael Jackson noch wesentlich größer war, da sein noch aktuelles Album Thriller die erfolgreichste Platte aller Zeiten war. Nach der Veröffentlichung von Undercover standen für die Stones
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