Mickey Haller 04 - Der fünfte Zeuge
können, dass er, Handschellen hin oder her, Zwang auf sie ausgeübt hat, können wir geltend machen, dass sie von Anfang an verhaftet war. Gelingt uns das, können sie alles, was sie vor der Miranda-Warnung gesagt hat, in den Wind schießen.«
»Okay.«
Aronson schaute beim Schreiben nicht von ihrem Block auf.
»Ist Ihnen klar, was Sie zu tun haben?«
»Ja.«
»Gut, dann machen Sie sich gleich an die Arbeit. Aber vernachlässigen Sie darüber nicht die anderen Mandanten. Sie sind es, die uns finanziell über Wasser halten. Vorerst jedenfalls.«
Ich wandte mich Lorna zu.
»Da fällt mir gerade ein, Lorna, könntest du dich mit Joel Gotler in Verbindung setzen und sehen, ob er in dieser Sache etwas anleiern kann? Wenn es zu einem Deal kommt, wird möglicherweise nichts aus dem Ganzen. Deshalb sollten wir versuchen, jetzt gleich einen Vertrag an Land zu ziehen. Sag ihm, wir sind bereit, hintenraus mit unseren Forderungen zurückzustecken, wenn er vornweg einen ordentlichen Vorschuss aushandeln kann. Wir müssen die Verteidigung ja irgendwie finanzieren.«
Gotler war der Hollywood-Agent, der mich vertrat. Ich setzte ihn jedes Mal ein, wenn Hollywood bei mir anklopfte. Dieses Mal würden wir bei Hollywood anklopfen und proaktiv einen Vertrag zu ergattern versuchen.
»Mach ihm die Sache schmackhaft, Lorna«, fuhr ich fort. »Ich habe die Visitenkarte eines Produzenten von Sixty Minutes im Auto liegen. Nur damit er sieht, welche Wellen die Sache bereits schlägt.«
»Ich werde Joel anrufen«, antwortete sie. »Ich weiß, was ich sagen muss.«
Ich hörte auf, hin und her zu gehen, und überlegte, was es noch zu klären gab und worin meine Aufgabe bestand. Ich sah Cisco an.
»Soll ich mich über diese Zeugin kundig machen?«, fragte er.
»Auf jeden Fall. Und über das Opfer auch. Ich möchte alles über die beiden wissen, was es zu wissen gibt.«
Meine Anweisungen wurden von einem durchdringenden Summton unterbrochen, der aus der Gegensprechanlage an der Wand neben der Küchentür kam.
»Sorry, da ist jemand am Eingang«, sagte Lorna.
Sie machte keine Anstalten, zur Sprechanlage zu gehen.
»Willst du denn nicht öffnen?«, fragte ich.
»Nein. Ich erwarte niemanden, und die Auslieferer kennen die Kombination. Wahrscheinlich ist es ein Vertreter. Sie entwickeln sich mehr und mehr zu einer richtigen Plage.«
»Okay«, sagte ich, »dann lasst uns weitermachen. Worüber wir uns als Nächstes Gedanken machen müssen, ist ein Alternativmörder.«
Das ließ alle aufhorchen.
»Wir brauchen jemanden, dem wir den Mord anhängen können«, fuhr ich fort. »Wenn wir mit dieser Sache vor Gericht gehen, wird es nicht ausreichen, die Argumente der Anklage zu widerlegen. Wir werden eine aggressive Verteidigung fahren müssen. Wir müssen die Aufmerksamkeit der Geschworenen von Lisa fort auf jemand anderen lenken. Und dafür ist eine Alternativtheorie nötig.«
Ich war mir sehr deutlich bewusst, wie mich Aronson beim Sprechen beobachtete. Ich kam mir vor wie ein Juraprof.
»Was wir brauchen, ist eine Unschuldshypothese. Wenn wir das hinbekommen, gewinnen wir den Prozess.«
Der Türsummer ertönte erneut. Und es folgten zwei weitere lange und hartnäckige Summtöne.
»Jetzt aber«, schimpfte Lorna.
Sie stand auf, ging zur Sprechanlage und drückte auf einen Knopf.
»Ja, wer ist da?«
»Ist das die Kanzlei von Mickey Haller?«
Es war eine Frauenstimme, und sie kam mir bekannt vor, aber ich konnte sie nicht sofort einordnen. Der Lautsprecher klang blechern, und die Lautstärke war heruntergedreht. Lorna blickte sich zu uns um und schüttelte den Kopf, als könnte sie sich das nicht erklären. Ihre Adresse war in keiner meiner Annoncen angegeben. Wie war es da möglich, dass jemand am Eingangstor aufkreuzte?
»Ja, aber nur nach vorheriger Terminvereinbarung«, antwortete Lorna. »Ich kann Ihnen die Telefonnummer geben, wenn Sie ein Beratungsgespräch mit Mr. Haller wollen.«
»Bitte! Ich muss ihn sofort sprechen. Ich bin Lisa Trammel, und ich bin bereits seine Mandantin. Ich muss dringend mit ihm reden.«
Ich starrte auf die Gegensprechanlage, als hielte ich sie für eine direkte Verbindung zum Frauengefängnis Van Nuys – wo Lisa Trammel hätte sein müssen. Dann sah ich Lorna an.
»Mach ihr lieber auf.«
6
L isa Trammel war nicht allein. Als Lorna die Wohnungstür öffnete, kam meine Mandantin in Begleitung eines Mannes herein, den ich bei Lisas erster Verhandlung im Gerichtssaal gesehen hatte. Er hatte in
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