Mickey Haller 04 - Der fünfte Zeuge
richtigen Schreibtisch und einer Couch für ein gelegentliches Mittagsschläfchen umzuziehen war eine große Veränderung. Um mich gleich einzugewöhnen, breitete ich als Erstes die mehr als achthundert Seiten umfassende Offenlegungsakte, die ich von Andrea Freeman erhalten hatte, auf dem Parkettboden aus.
Der größte Teil davon stammte von WestLand und war überwiegend Füllmaterial. Das war Freemans passiv-aggressive Reaktion auf die taktischen Manöver der Verteidigung. Unter den Dokumenten waren Dutzende Seiten und Erläuterungen zu Bankrichtlinien und -verfahren und sonstige Formulare, die ich nicht brauchte. Sie wanderten alle auf einen Haufen. Es gab auch Kopien sämtlicher Schreiben, die direkt an Lisa Trammel gegangen waren. Die meisten davon hatte und kannte ich bereits. Sie landeten auf einem zweiten Stapel. Und schließlich waren da noch die Kopien bankinterner Schriftwechsel sowie der Korrespondenz zwischen dem Opfer, Mitchell Bondurant, und der Fremdfirma, die von der Bank mit der Durchführung der Zwangsversteigerungen beauftragt worden war.
Diese Firma hieß ALOFT, und ich war bereits relativ gut mit ihr vertraut, weil sie in mindestens einem Drittel meiner Zwangsversteigerungsfälle mein Gegner war. ALOFT war ein Fließbandbetrieb, eine Firma, die sämtliche für den langwierigen Zwangsversteigerungsprozess erforderlichen Dokumente beschaffte und einreichte. Sie übernahm eine Mittlerfunktion für Banken und sonstige Kreditgeber, die sich auf diese Weise die Hände nicht schmutzig zu machen brauchten, wenn ihren Kunden die Häuser weggenommen wurden. Das erledigten Firmen wie ALOFT, ohne dass die Bank den von einer Zwangsversteigerung bedrohten Kunden auch nur eine schriftliche Mitteilung schicken musste.
Es war der Stapel mit dieser Korrespondenz, der mich am meisten interessierte, und er war hier, damit ich das Dokument fände, das den ganzen Prozessverlauf auf den Kopf stellte.
Ich ging hinter meinen Schreibtisch, setzte mich und starrte auf das Telefon. Es hatte mehr Knöpfe, als ich jemals brauchen würde. Endlich fand ich den Knopf für die Gegensprechanlage zum anderen Büro und drückte ihn.
»Hallo?«
Nichts. Ich drückte noch einmal.
»Cisco? Bullocks? Wo seid ihr?«
Nichts. Ich stand auf und wollte gerade zur Tür gehen, um mit meinen Mitarbeitern auf die altmodische Art zu kommunizieren, als endlich eine Antwort aus dem Lautsprecher der Telefonanlage kam.
»Mickey, bist du das?«
Es war Ciscos Stimme. Ich eilte zum Schreibtisch zurück und drückte den Knopf.
»Ja, ich bin’s. Könntest du kurz rüberkommen? Und bring Bullocks mit.«
»Alles klar.«
Wenige Minuten später kamen mein Ermittler und meine junge Anwaltskollegin herein.
»Oh-oh, Boss.« Kopfschüttelnd blickte Cisco auf die Papierstapel auf dem Boden. »Ist ein Büro nicht dafür da, die ganzen Akten in Regalen und Schränken unterzubringen?«
»Alles zu seiner Zeit«, antwortete ich. »Schließ die Tür und setzt euch.«
Sobald wir alle saßen, schaute ich sie über meinen großen gemieteten Schreibtisch hinweg an und lachte.
»Ganz schön komisch.«
»Ich könnte mich daran gewöhnen, ein Büro zu haben«, sagte Cisco. »Aber Bullocks ist in dieser Hinsicht noch vollkommen unbeleckt.«
»Von wegen«, protestierte Aronson. »Vergangenen Sommer habe ich bei Shandler, Massey und Ortiz mein Praktikum gemacht, und da hatte ich ein Büro ganz für mich allein. «
»Na ja, vielleicht bekommen Sie ja nächstes Mal auch bei uns ein eigenes«, sagte ich. »Aber jetzt zur Sache. Cisco, hast du diesem Typen schon den Laptop vorbeigebracht?«
»Ja, gestern Morgen. Ich habe ihm auch gesagt, dass es eilig ist.«
Es war Lisas Laptop gemeint, den die Staatsanwaltschaft zusammen mit ihrem Handy und den vier Kartons mit Unterlagen zurückgeschickt hatte.
»Und er kann uns dann tatsächlich sagen, was sich die Staatsanwältin angesehen hat?«
»Er hat gesagt, er kann eine Liste der Dateien erstellen, die sie geöffnet haben und wie lang diese geöffnet waren. Anhand dessen müssten wir uns eigentlich ein Bild machen können, wofür sie sich besonders interessiert haben. Aber mach dir mal nicht zu große Hoffnungen.«
»Warum nicht?«
»Weil Freeman in diesem Punkt zu schnell nachgegeben hat. Ich glaube nicht, dass sie uns den Computer zurückgegeben hätte, wenn er ihr so wichtig wäre.«
»Na ja, schon möglich.«
Weder er noch Aronson wussten von meinem Deal mit Freeman und was ich als Druckmittel eingesetzt
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