MicrDolly - 07 - Dolly hat Heimweh nach der Burg
„Ich konnte es einfach nicht mehr mit ansehen, wie du dich vor dem armen Don Rodriguez lächerlich gemacht hast und absolut nicht merken wolltest, daß du ihm nur lästig warst. Du bist ja fast in ihn hineingekrochen.“
„Und du? Was hast du getan?“
„Jedenfalls benehme ich mich nicht so aufdringlich. Und nun gute Nacht, meine Liebe, ich bin müde.“
Evelyn erhob sich und segelte mit hoch erhobenem Haupt nach draußen. Sandra starrte ihr einen Augenblick mit offenem Mund nach, dann stürzte sie hinterher.
„Wie viele blaue Augen wettest du?“ fragte Dolly Susanne lachend.
„Nun, zwei mindestens. Und ein paar kräftige Kratzer.“ Aber die beiden jungen Damen besannen sich rechtzeitig auf ihren Ruf, unbescholtene Töchter aus besseren Kreisen zu sein. Sie verzichteten zwar auf die Prügelei, gingen sich aber aus dem Weg. Im Unterricht saßen sie möglichst weit entfernt voneinander und begegneten sich ihre Blicke einmal, taten sie, als sei die andere Luft.
Trotzdem strichen sie weiter um den armen Don Rodriguez wie zwei hungrige Katzen um das Goldfischbecken. Don Rodriguez saß außerhalb der Unterrichtsstunden in seinem Gasthofzimmer wie ein Gefangener, nur um von den beiden Anbeterinnen in Ruhe gelassen zu werden.
Als Dolly eine Woche später über den Hof zum Mühlenhaus ging, rollte ihr ein Ball vor die Füße.
„Oh!“ Sie hob den Ball auf und betrachtete ihn erstaunt. Dann sah sie sich um. Niemand war zu sehen. Doch nein, dort hinter dem Busch bewegte sich etwas. „Hallo – du da, ist das dein Ball?“
Hinter dem Strauch kam ein Gesicht zum Vorschein, das ängstliche Gesicht eines fünfjährigen Mädchens mit dunklem Haar und leuchtend blauen Augen. „Wie heißt du?“ fragte Dolly.
„Das Mädchen sah sie regungslos an.
„Wie ist dein Name?“
Keine Antwort.
„Sprichst du nicht Deutsch?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
Dolly hockte sich zu ihr hinunter. „Ich…“, sie zeigte auf sich, „Dolly. Dolly Rieder. Und du?“ Sie tippte dem Mädchen auf die Brust.
„Juanita Rodriguez.“ Sie lachte Dolly an.
„Ich verstehe. Nun – zumindest glaube ich zu verstehen. Bis später, Juanita – spiel schön weiter.“ Dolly drückte der Kleinen den Ball in den Arm.
Beim Mittagessen sah sie Juanita wieder. An der Seite ihrer Mutter, einer schönen dunkelhaarigen Frau mit leuchtend blauen Augen, und ihres Vaters: Don Diego Rodriguez.
Evelyn kam heute nicht zum Essen. Evelyn hatte Migräne. Und auch Sandra sah recht angegriffen aus.
Ingrids Rache
Die vierte Klasse hatte auch diesmal Fräulein Wagner als Klassenlehrerin. Fräulein Wagner wirkte unnahbar und steif und war schrecklich gebildet. Aber wenn man sie ein wenig besser kannte, entdeckte man, daß sie ein sehr sanftes Herz besaß und viel Verständnis für die Schwierigkeiten und Schwächen ihrer Schülerinnen hatte. Trotzdem hielt sie eisern auf Disziplin, denn in der vierten Klasse mußte für die Prüfungen hart gearbeitet werden.
Besonders viel Ärger würde es mit dieser vierten Klasse nicht geben. Die meisten der Mädchen standen gut, die vorlaute Irmgard hatte sich seit dem vergangenen Jahr sehr gebessert, nur eine der beiden Neuen, diese Ingrid, machte ihr Sorgen. Sie war schon aus zwei Internaten gefeuert worden, weil sie gegen Schüler und Lehrer ein unerträglich unverschämtes Betragen gezeigt hatte. Ingrid hatte noch zwei ältere Brüder. Ihre Eltern waren berufstätig und hatten keine Zeit, sich um die Kinder zu kümmern. Deshalb waren alle drei vollkommen verwildert, besaßen keine Manieren und kannten nur das Recht des Stärkeren. Frau Greiling hatte Ingrid mit Vorbehalt auf Burg Möwenfels aufgenommen und Fräulein Wagner fürchtete das Schlimmste, wenn nicht ein einschneidendes Erlebnis diese Ingrid zur Besinnung bringen würde.
Ingrid selbst hatte nur einen Gedanken: sich das Leben so bequem wie möglich zu machen, auch wenn es auf Kosten der anderen ging. So hatte sie sich vor wenigen Tagen von Irmgard einen Schlag auf die Hand gefallen lassen müssen, als sie gemeinsam den Speisesaal betraten, wo auf den Tischen schon die Platten mit Braten bereitstanden.
Ingrid hatte in das größte Stück mit dem Finger hineingepiekt und gerufen: „Das da ist meines!“
Vielleicht hatte sie erwartet, daß die anderen ein solches Benehmen von der komischen Seite nehmen und lachen würden. Aber da hatte sie sich getäuscht.
Irmgard hatte ihr einen gewaltigen Klaps auf die Hand gegeben und gefaucht: „Ich weiß zwar nicht, was für
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