Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
im Zahnkranz des Hinterrades. Einen Moment lang hatte ich eine Hand am Gashebel, während der Rest meines Körpers wild herumruderte, ehe ich dann mitten auf der Straße entlanggeschleift wurde. Ich hatte zu viel Angst, um einfach loszulassen. Doch am Ende musste ich wirklich loslassen, und Sekundenbruchteile später sprang mein Moped über den Bürgersteig, erhob sich in die Lüfte und verschwand hinter einem Gebüsch.
Dave landete direkt vor mir und konnte sich vor Lachen kaum halten. Ein paar Sekunden darauf stieß auch Paul zu uns. Seine Augen waren so groß wie Silberdollars. »Mann, war das cool! Kannst du das nicht gleich noch mal machen?« Als ich mich aufrappelte, konnte ich sehen, wie einige Erwachsene aus der Nachbarschaft in unsere Richtung starrten. Sie schienen sich mehr Sorgen über die Schäden am Gebüsch zu machen als über meinen Gesund-heitszustand. Ich bemühte mich, diese unfreundlichen Blicke zu übersehen, meine Schmerzen zu verdrängen und Paul breit anzulächeln. Von diesem Augenblick an hatte ich meinen Spitznamen weg: »Der Stuntmaster von Duinsmoore « .
Noch am selben Abend schmiedeten wir drei Pläne für unser nächstes Abenteuer. Pauls Eltern besaßen eine 16Millimeter-Kamera, und so beschloss Paul, einen Film im James-Bond-Stil zu drehen. Die Hauptrolle sollte ich spielen. Der Höhepunkt des Films 247
sollte sein, wie Dr. Strange, gespielt von Dave, Bond die ganze Straße rauf und runter zerrt, während Paul dies aus allen möglichen Kamerawinkeln filmen wollte.
Ich sagte Paul, dass dieser Stunt für mich vielleicht doch nicht so gut wäre, während Dave, vor lauter Vorfreude wie ein Hund keuchend, behauptete, ihm würde es nichts ausmachen, mit anzusehen, wie aus meinen Knien langsam Hackfleisch würde. Außerdem sollte Dave noch die Rolle als mein Stunt-Koordinator übernehmen. Das heißt, er sollte dafür sorgen, dass sich keine Kinder unter zehn auf der Straße aufhielten, und am Ende sollte er Pflaster bereit halten, wenn meine Aktion vorbei wäre. Allerdings war ich am nächsten Tag sehr dankbar, als der Film in Pauls Kamera voll war - noch ehe der todesmutige Höhepunkt des Films erreicht war.
Eines Tages war mir Paul dabei behilflich, ein Rendezvous mit einem Mädchen vorzubereiten, das eine Straße weiter um die Ecke wohnte. Ich hatte noch nie zuvor mit einem Mädchen gesprochen, doch Paul lieh mir sein bestes Hemd aus und verriet mir auch, was man bei solchen Gelegenheiten sagt. Zu dieser Zeit in meinem Leben sah ich mich selbst kaum je im Spiegel an, geschweige denn, dass ich den Mut aufgebracht hätte, mit einem Mädchen zu sprechen.
Nachdem ich mir die Haare gekämmt hatte, mir noch weitere Unterweisungen angehört hatte und dann keine Ausrede mehr besaß, ließ ich mich von Paul aus dem Haus jagen. Ich schlenderte also den Duinsmoore Drive entlang. Als ich um die Ecke bog, fühlte ich mich als ganz normaler Mensch. Ich lebte in einer perfekten Nachbarschaft, meine Pflegeeltern erlaubten mir, nach meinen Wünschen zu leben, ich brauchte nicht zu arbeiten und, was für mich am wichtigsten war, mein 248
ganzes Leben drehte sich um die besten Freunde auf der ganzen Welt.
Wenige Minuten später klopfte ich an die Haustür des betreffenden Hauses und wartete. Meine Hände zitterten und ich fühlte mich etwas benommen, während Schweiß aus wirklich allen Poren meines Körpers zu rinnen schien. Ich war so aufgeregt, dass ich fast schon ein wenig Angst hatte. Aber es war eine angenehme Angst. Als sich die Tür öffnete, begann ich mir die Hände zu reiben. Ich dachte, ich würde den Mund überhaupt nicht wieder zubekommen. Und ich spürte ein Prickeln am ganzen Körper, als ich in das Gesicht des hübschesten Mädchens sah, das ich je gesehen hatte. Ohne dass das Mädchen es merkte, gewann ich meine Fassung wieder, als sie zu sprechen begann.
Und je mehr sie redete, desto besser fühlte ich mich in meiner Haut. Ich konnte gar nicht glauben, wie leicht es war, das Mädchen zum Lachen zu bringen. Es machte richtig Spaß - bis zu dem Augenblick, als die Mutter des Mädchens die Angebetete plötzlich zur Seite stieß.
Meine Augen benötigten einen Augenblick, um sich anzupassen. Wie wild fuchtelte diese Frau mit ihrem Finger vor meinem Gesicht herum. »Du bist doch dieses kleine ... dieses Pflegekind, nicht wahr?«, sagte sie höhnisch mit einem angespannten Lächeln im Gesicht.
Ich war viel zu verblüfft, um etwas sagen zu können.
»Hast du überhaupt keinen Respekt
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