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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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von Jahr zu Jahr seine Lage, zog wie bei einer Kontinentalverschiebung über die Kugel seines Schädels, ohne je abzuheilen.) Dr. Philobosian roch wie ein altes Sofa, nach Haaröl und verschütteter Suppe, nach regellosen Nickerchen. Sein Arztdiplom sah aus, als wäre es auf Pergament geschrieben. Es hätte mich nicht überrascht, wenn Dr. Phil, um ein Fieber zu senken, ein Rezept für Blutegel ausgeschrieben hätte. Mir gegenüber war er korrekt, niemals freundlich, und er richtete seine Worte zumeist an Tessie, die auf einem Stuhl in der Ecke saß. Welche Erinnerungen, so frage ich mich, mied Dr. Phil, indem er mich nicht ansah? Schwebten die Geister levantinischer Mädchen über seinen flüchtigen Untersuchungen, herbeigerufen von der Zerbrechlichkeit meiner Schlüsselbeine oder dem Vogelruf meiner kleinen Stauungslunge? Versuchte er, nicht an Wasserpaläste und gelöste Morgenröcke zu denken, oder war er einfach nur müde, alt, halb blind und zu stolz, es zuzugeben?
    Wie die Antwort auch war, Jahr für Jahr ging Tessie getreulich mit mir zu ihm, als Dank für einen Akt der Nächstenliebe, damals in einer Katastrophe bezeigt, von der er nicht mehr wissen wollte. Bei jedem Besuch lag in seinem Wartezimmer dasselbe abgegriffene Highlights-Magazin. »Findest du sie?«, fragte darin das Rätsel. Und da in der üppigen Kastanie waren das Messer, der Hund, der Fisch, die alte Frau, der Kerzenständer - allesamt von meiner Hand umkringelt, zittrig von Ohrenschmerzen, viele, viele Jahre zuvor.
    Auch meine Mutter mied Körperdinge. Nie sprach sie offen über Sex. Nie zog sie sich vor mir aus. Schmutzige Witze oder Nacktheit in Filmen waren ihr unangenehm. Was Milton betraf, so war er unfähig, seine junge Tochter aufzuklären, also musste ich mir solche Sachen in jenen Jahren selbst zurechtlegen.
    Andeutungen, die Tante Zo in der Küche fallen ließ, entnahm ich, dass Frauen immer wieder etwas widerfuhr, etwas, was ihnen missfiel, etwas, womit Männer sich nicht herumschlagen mussten (wie mit allem anderen auch). Was es auch war, es schien, wie Heiraten und Kinderkriegen, in sicherer Ferne. Und dann stieg eines Tages im Camp Ponshewaing Rebecca Urbanus auf einen Stuhl. Rebecca war aus South Carolina. Ihre Vorfahren waren Sklavenhalter gewesen, und sie hatte eine ausgebildete Stimme. Wenn sie mit Jungen aus dem Nachbarcamp tanzte, wedelte sie mit einer Hand vor dem Gesicht wie mit einem Fächer. Warum stand sie auf dem Stuhl? Wir machten eine Talentshow. Vielleicht sang Rebecca Urbanus oder trug ein Gedicht von Walter de la Mare vor. Die Sonne stand noch hoch, und ihre Shorts waren weiß. Und plötzlich, während sie sang (oder vortrug), wurden ihre Shorts hinten dunkel. Zunächst schien es nur ein Schatten der umstehenden Bäume zu sein. Der winkenden Hand eines Kindes. Aber nein: Jede aus unserer Gruppe Zwölfjähriger, alle in Camp-T-Shirt und mit Indianer-Stirnband, sah, was Rebecca Urbanus nicht sah. Die obere Hälfte hatte ihren Auftritt, aber die untere stahl ihr die Schau. Der Fleck wurde größer, und er war rot. Die Betreuer wussten nicht, was sie tun sollten. Rebecca, die Arme ausgebreitet, sang. Sie drehte sich auf dem Stuhl vor ihrem Rundtheater: vor uns, die wir hinstarrten, verwirrt, entsetzt. Einige »fortgeschrittene« Mädchen begriffen. Andere, wie auch ich, dachten: Stichwunde, Bärenangriff. Und da bemerkte Rebecca Urbanus, wie wir zu ihr hinsahen. Sie blickte an sich nieder. Und kreischte auf. Und stürzte von der Bühne.
    Ich kam brauner und magerer vom Camp zurück und mit einem einzigen Abzeichen (ironischerweise für Orientierungs marsch). Das andere Abzeichen, das Carol Horning am ersten Schultag so stolz herzeigte, besaß ich noch nicht. Meine Haltung dazu war zwiespältig. Wenn Rebecca Urbanus' Missgeschick einen Vorgeschmack darauf gab, war es wohl sicherer, so zu bleiben, wie ich war. Und wenn mir etwas Ähnliches passierte? Ich ging meinen Schrank durch und warf alles Weiße raus. Ich hörte völlig auf zu singen. Das ließ sich nicht beherrschen. Man wusste ja nie. Es konnte jederzeit geschehen.
    Nur bei mir geschah es nicht. Während die meisten anderen Mädchen aus meiner Klasse nun ihre Verwandlung durchliefen, machte ich mir immer weniger Gedanken über mögliche Zwischenfälle; ich hatte zunehmend Angst zurückzubleiben, eine Außenseiterin zu sein.
    Ich bin im Matheunterricht, irgendwann im Winter in der Sechsten. Miss Grotowski, unsere noch einigermaßen junge Lehrerin, schreibt eine

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