Middlesex
Gesicht. Unter diesem Lächeln waren, ausgestellt wie in einer Pokalvitrine, die Brüste, die sie im Verlauf des Sommers bekommen hatte. Sie war nicht die Einzige. Während der Wachstumsmonate hatten sich einige meiner Schulfreundinnen - wie die Erwachsenen zu sagen pflegten -»entwickelt« .
Ganz und gar unvorbereitet war ich nicht. Im vorausge gangenen Sommer hatte ich einen Monat im Camp Ponshewaing in der Nähe von Port Huron verbracht. Während des langsamen Marschs der Sommertage war mir bewusst, so wie einem eine Trommel bewusst ist, deren Schlag stetig über einen See hinüberweht, dass bei meinen Camp-Freundinnen im Körper etwas ablief. Manche wurden schamhaft. Sie drehten einem beim Anziehen den Rücken zu. Andere hatten ihren Nachnamen nicht nur auf Shorts und Socken genäht, sondern auch auf Sport-BHs. Zumeist war es etwas Persönliches, über das man nicht sprach. Hin und wieder aber gab es dramatische Manifestationen. Eines Nachmittags während der Schwimmstunde schepperte die Blechtür des Umkleideraums auf und wieder zu. Das Geräusch prallte von den Fichtenstämmen und fuhr über den mageren Strand hinaus aufs Wasser, wo ich auf einem Schlauch trieb und Love Story las. (Die Schwimmstunde war die einzige Zeit, in der ich zum Lesen kam, und obwohl die Camp-Betreuer mir in den Ohren lagen, ich müsse meinen Freistil verbessern, las ich doch beharrlich den neuen Bestseller, den ich auf dem Nachttisch meiner Mutter hatte liegen sehen.) Nun blickte ich auf. Auf einem staubigen braunen Weg voller Fichtennadeln kam Jenny Simonson in einem rot-weiß-blauen Badeanzug daher. Der Anblick brachte die Natur zum Schweigen. Die Vögel verstummten. Die Schwäne fuhren gewaltige Hälse aus, um einen Blick zu erhaschen. Selbst eine Kettensäge in der Ferne stellte sich ab. Ich gewahrte die Pracht von Jenny S. Um sie herum verdichtete sich das goldene Licht des Spätnachmittags. Ihr patriotischer Badeanzug wölbte sich wie kein anderer. Muskeln spannten sich in ihren langen Schenkeln. Sie rannte ans Ende der Pier und sprang in den See, wo ein Schwarm Najaden (ihre Freundinnen aus Cedar Rapids) auf sie zuschwamm.
Ich ließ mein Buch sinken und schaute auf meinen Körper hinab. Alles war wie immer: die flache Brust, die nicht vorhandenen Hüften, die von Moskitos zerstochenen Stelzen. Von Seewasser und Sonne schälte sich meine Haut. Meine Finger waren ganz runzlig geworden.
Dank Dr. Phils Altersschwäche und Tessies Prüderie war ich in der Pubertät angekommen, ohne genau zu wissen, was mich erwartete. Dr. Philobosian hatte noch immer eine Praxis in der Nähe der Frauenklinik, die damals schon geschlossen war. Seine Praxis hatte sich erheblich verändert. Er hatte noch ein paar ältere Patienten, die, da sie unter seiner Obhut so lange überlebt hatten, sich fürchteten, den Arzt zu wechseln. Alle anderen waren Sozialhilfefamilien. Schwester Rosalee schmiss die Praxis. Sie und Dr. Phil hatten, ein Jahr nachdem sie sich bei meiner Entbindung kennen gelernt hatten, geheiratet. Jetzt vergab sie Termine und setzte Spritzen. Ihre Kindheit in den Appalachen hatte sie mit Verwaltungsarbeit vertraut gemacht, und bei den Medicaid-Formularen war sie ein Genie.
Mit über achtzig hatte Dr. Phil noch angefangen zu malen. Seine Praxiswände waren salonartig mit pastösen, wirbelnden Ölgemälden bedeckt. Er benutzte kaum Pinsel, sondern hauptsächlich ein Palettenmesser. Und was malte er? Smyrna? Den Kai im Morgengrauen? Den schrecklichen Brand? Nein. Wie viele Amateure meinte Dr. Phil, der einzige ordentliche Gegenstand der Kunst sei eine pittoreske Landschaft, die nichts mit seinen Erlebnissen zu tun habe. Er malte Seeblicke, die er nie gesehen, Walddörfer, die er nie besucht hatte, vollendet mit einer Pfeife schmauchenden Gestalt, die sich auf einem Baumstamm ausruhte. Dr. Philobosian redete nie über Smyrna und verließ das Zimmer, wenn jemand davon anfing. Nie erwähnte er seine erste Frau oder seine ermordeten Söhne und Töchter. Vielleicht lebte er nur deshalb noch.
Gleichwohl wurde Dr. Phil zu einem Fossil. Bei meiner jährlichen Routineuntersuchung wandte er 1972 Diagnose methoden an, die 1910 im Medizinstudium üblich gewesen waren. Er tat, als wolle er mir ins Gesicht schlagen, um meine Reflexe zu testen.
Oder er horchte mich mit einem Weinglas ab. Wenn er den Kopf neigte, um auf meine Herztöne zu achten, eröffnete sich mir auf seiner kahlen Platte das Panorama eines Grind- Galapagos. (Der Archipel veränderte
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