Middlesex
allesamt Menschen, möchten Ihnen unter anderem sagen, dass sie genau das sind, Menschen.«
Aufgrund bestimmter genetischer und hormoneller Gegebenheiten war es manchmal sehr schwierig, das Geschlecht eines Neugeborenen zu bestimmen. Die Spartaner setzten ein solches Kind auf einem Steinhügel zum Sterben aus. Luces Vorfahren, die Engländer, mochten das Thema gar nicht erst anschneiden und hätten es wohl nie getan, hätte das Ärgernis mysteriöser Genitalien nicht eine Maid in das feine Räderwerk des Erbschaftsgesetzes geworfen. Lord Coke, der große britische Jurist des siebzehnten Jahrhunderts, versuchte die Frage, wer die Ländereien denn nun bekommen werde, durch die Feststellung zu klären, dass eine Person »entweder männlichen oder weiblichen Geschlechtes sein soll, und sie soll erben gemäß demjenigen Geschlechte, welches sich durchsetzt«. Natürlich spezifizierte er keine präzise Methode, mit der sich bestimmen ließ, welches Geschlecht sich nun tatsächlich durchgesetzt hatte. Bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein bediente sich die Medizin des primitiven Kriteriums zur Bestimmung des Geschlechts, das Klebs 1876 formuliert hatte. Klebs hatte behauptet, es seien die Gonaden eines Menschen, die sein Geschlecht bestimmten. In Fällen zwittrigen Geschlechts möge man das Gonadengewebe unterm Mikroskop betrachten. Sei es testikulär, sei die Person männlich, sei es ovarial, weiblich. Man hatte die leise Ahnung, dass die sexuelle Entwicklung von den Gonaden beeinflusst werde, zumal in der Pubertät. Aber die Sache erwies sich als komplizierter. Klebs hatte sich dieser Aufgabe angenommen, doch die Welt musste noch weitere hundert Jahre darauf warten, dass Peter Luce daherkam und sie vollendete.
1955 hatte Luce einen Artikel mit dem Titel »Viele Wege führen nach Rom: Sexuelle Konzepte des menschlichen Hermaphroditismus« publiziert. Auf fünfundzwanzig Seiten unverblümter, gehobener Prosa behauptete Luce, das Geschlecht werde von einer Vielzahl von Einflüssen bestimmt: dem chromosomalen Geschlecht, dem gonadalen Geschlecht, den Hormonen, den inneren Genitalstrukturen, den äußeren Geschlechtsorganen und, was das Wichtigste war, dem Geschlecht nach Aufzucht und Erziehung. Anhand von Studien über Patienten der pädriatrisch-endokrinologischen Ambulanz am New York Hospital vermochte Luce aus den Akten Befunde zusammenzutragen, die zeigten, wie diese verschiedenen Faktoren ins Spiel kamen und bewiesen, dass das gonadale Geschlecht häufig nicht die geschlechtliche Identität bestimmte. Der Artikel sorgte für Furore. Binnen Monaten hatte praktisch jeder Klebs' Kriterium zugunsten von Luces Kriterien aufgegeben.
Aufgrund dieses Erfolgs erhielt Luce die Gelegenheit, die Psy chohormonale Station am New York Hospital einzurichten. In jener Zeit behandelte er zumeist Kinder mit dem adrenogenitalen Syndrom, der häufigsten Form des weiblichen Hermaphroditismus. Man hatte entdeckt, dass das Hormon Cortisol, das unlängst im Labor synthetisch hergestellt worden war, die Virilisierung hemmte, die diese Mädchen normalerweise durchliefen, und ihnen gestattete, sich wie andere Frauen zu entwickeln. Die Endokrinologen verabreichten das Cortisol, und Luce überwachte die psycho sexuelle Entwicklung der Mädchen. Dabei lernte er viel. Nach einem Jahrzehnt solider Grundlagenforschung machte Luce seine zweite große Entdeckung: dass die geschlechtliche Identität schon sehr früh im Leben festgelegt wird, ungefähr im Alter von zwei Jahren. Das Geschlecht war wie eine Muttersprache; vor der Geburt existiert es nicht, wird aber im Lauf der Kindheit dem Gehirn auf immer eingeprägt. Kinder lernen, Männlich oder Weiblich zu sprechen, wie sie Englisch oder Französisch sprechen lernen.
Diese Theorie veröffentlichte er 1967 in einem Artikel im The New England Journal of Medicine mit dem Titel »Frühbestimmung der geschlechtlichen Identität: Die endgültigen Zwei«. Danach erreichte seine Reputation die Stratosphäre. Die Gelder flossen nur so, von der Rockefeller Foundation, von der Ford Foundation, vom N. I. S. Es war eine wunderbare Zeit, Sexologe zu sein. Die sexuelle Revolution eröffnete neue Möglichkeiten. Einige Jahre lang diente es dem nationalen Interesse, den Mechanismus des weiblichen Orgasmus zu erforschen. Oder die psychologischen Gründe auszuloten, warum manche Männer sich auf der Straße entblößten. 1968 eröffnete Dr. Luce die Ambulanz für sexuelle Störungen und geschlechtliche Identität.
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